Abschlussball, dann sterben

Darf eine 14-Jährige über ihren Tod entscheiden?

Jerika Bolen hat mit 14 Jahren beschlossen zu sterben. Nach ihrem Behandlungsabbruch sorgt ihr letzter Wunsch für Aufruhr in den USA: ein Abschlussball mit ihrem letzten Tanz

Von Claudia Pieper Veröffentlicht:
Darf ein Teenager entscheiden, die Behandlung abzubrechen, um zu sterben? Diese Frage erhitzt die Gemüter in Amerika.

Darf ein Teenager entscheiden, die Behandlung abzubrechen, um zu sterben? Diese Frage erhitzt die Gemüter in Amerika.

© Yvonne Weis / Fotolia

Jerika Bolen hat ihr Ziel erreicht. Die 14jährige Amerikanerin litt an Spinaler Muskelatrophie vom Typ 2 (SMA) und hatte im Juli angekündigt, dass sie nicht mehr weiterleben wolle. Ende August ging sie in Hospizbetreuung und hörte auf, das Atemgerät in Anspruch zu nehmen, das sie vorher rund zwölf Stunden am Tag benutzt hatte.

Vor einigen Tagen starb Bolen. Die letzten Tage verbrachte sie zurückgezogen, doch zuvor hatte ihre Geschichte einen intensiven Medienrummel ausgelöst.

Insbesondere Bolens Wunsch, einen persönlichen Abschlussball abzuhalten, wurde zum Mega-Ereignis, über das nicht nur die Regenbogenpresse, sondern auch "Washington Post", "New York Times" und "USA Today" berichteten.

"J's letzten Tanz"sorgt für Aufruhr – positiv und negativ

Über 1000 Menschen fanden sich in Bolens kleiner Heimatstadt in Michigan ein, um "J's letzten Tanz", wie Jerika den Ball nannte, mitzufeiern. Manche waren von ihrem Schicksal so angerührt, dass sie mehrere Tage Autofahrt in Kauf nahmen, um dabei zu sein.

Bolens Geschichte ist in der Tat herzerweichend. Im Alter von acht Monaten wurde bei ihr SMA diagnostiziert, sie war nie in der Lage zu laufen. Am Ende war ihre Körperkontrolle auf Kopf und Hände begrenzt, mit der Aussicht, selbst jene zu verlieren.

38 Operationen hatte sie über sich ergehen lassen, und ihren Schmerzpegel beschrieb sie auf einer Skala von 1 bis 10 mit einer 7 – "an guten Tagen". Dass das Mädchen ihres Leidens und Lebens überdrüssig wurde, ist zu verstehen.

Nichts deutet darauf hin, dass sie in ihrer Entscheidung, den Lebenskampf aufzugeben, von Verwandten oder Freunden ermuntert wurde.

Die meisten Menschen, die zu ihrem Ball gekommen waren, schienen wohlmeinend in dem Verlangen, ein todkrankes Mädchen in ihrem letzten Wunsch zu unterstützen. Bei manchen regte sich dennoch Unbehagen: Dem Teenager wurde so viel Bewunderung und Ermutigung entgegengebracht, dass es an Anfeuerung grenzte.

Parallelen zum Fall Brittany Mainard

Die Reaktion der Öffentlichkeit erinnert an den Fall von Brittany Maynard. Die 29jährige Kalifornierin war 2014 nach einer Gehirnkrebsdiagnose eigens nach Oregon gezogen, um ihrem Leben mit legal verschriebenen Medikamenten ein Ende zu bereiten.

Sie suchte bewusst das Rampenlicht, weil sie hoffte, der Sterberechtsbewegung Auftrieb zu geben. Auch sie erhielt in ihrem Wunsch, dem natürlichen Sterben vorzugreifen, ein hohes Maß an öffentlicher Ermutigung. Kritischen Stimmen schlug Feindseligkeit entgegen.

Tatsächlich wurde später in Kalifornien ein Gesetz verabschiedet, das es Ärzten nun auch dort erlaubt, Sterbenskranken eine tödliche Dosis von Medikamenten zu verschreiben.

Der Vergleich zu Maynard hat ohne Zweifel Grenzen: Jerika Bolen bemühte sich offiziell nicht um Sterbehilfe. Bei ihr ging es darum, lebenserhaltende Apparate, wie ihr Atemgerät, nicht mehr in Anspruch zu nehmen also die "Behandlung einzustellen".

Behindertenschutzorganisationen: Jerika zu jung für Entscheidung

Ein weiterer großer Unterschied, der zum Ende hin diskutiert wurde, war Bolens Alter. Mit 14 Jahren war sie längst nicht volljährig. Nachdem ihr "letzter Tanz" in den Medien Anklang gefunden hatte, meldeten sich Vertreter von Behindertenschutzorganisationen zu Wort. Jerika sei nicht alt genug, eine Entscheidung über Leben und Tod zu fällen.

Carrie Ann Lucas von der in Denver ansässigen Organisation Disabled Parents Rights sagte zum Nachrichtensender Fox News: "Es hat gute Gründe, warum wir 14-Jährigen nicht erlauben, dem Militär beizutreten oder ihre Stimme bei Wahlen abzugeben. Deshalb lassen wir 14-Jährige auch nicht ihre eigenen medizinischen Behandlungsentscheidungen treffen."

Disabled Parents Rights und mehrere andere Behindertenschutzorganisationen alarmierten die Jugendschutzbehörde, in der Hoffnung, dass diese in den Fall eingreifen würde. Derzeit ist unklar, ob die Behörde tätig geworden ist.

An Jerika Bolens Tod ist nun nicht mehr zu rütteln. Ihre Entscheidung zu verteufeln und ihre Familie an den Pranger zu stellen ist sicher fehl am Platz.

Dennoch wirft der Fall wichtige Fragen auf, die sich insbesondere die Gesellschaft und mit ihr die Medien stellen müssen: Welche Signale senden wir zum Beispiel anderen Todkranken und Schwerbehinderten, wenn wir Leidensgenossen zujubeln, die ihr Sterben beschleunigen wollen?

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