Mangelnde Therapietreue

Das Milliardengrab

Mangelnde Persistenz und Adhärenz sind die größten Verschwender im Gesundheitswesen. Auf 19 Milliarden Euro beziffert IMS das Sparpotenzial allein für das Medizinsystem, zwischen 38 und 75 Milliarden Euro für die Gesamtgesellschaft. Warum ist dieser Schatz so schwer zu schürfen?

Helmut LaschetVon Helmut Laschet Veröffentlicht:
19 Milliarden Euro könnten in Deutschland eingespart werden, würden alle Patienten ihre Medikamente ordnungsgemäß einnehmen.

19 Milliarden Euro könnten in Deutschland eingespart werden, würden alle Patienten ihre Medikamente ordnungsgemäß einnehmen.

© Sven Baehren / fotolia.com

500 Milliarden Dollar werden jährlich weltweit in der Medizin verpulvert, weil Patienten ihre Medikamente nicht ordnungsgemäß einnehmen, aber auch Ärzte Fehler bei der Verordnung machen. Das hat das international tätige Marktforschungsunternehmen IMS Health ausgerechnet.

Für Deutschland hat IMS einen Betrag von 19 Milliarden Euro ermittelt, das sind 6,7 Prozent der gesamten Gesundheitsausgaben, also einschließlich PKV und Beamtenversorgung.

Mit knapp 13 Milliarden Euro ist mangelnde Therapietreue der Patienten die Hauptursache für Verschwendung.

Die anderen sechs Milliarden Euro gehen eher auf das Konto von Ärzten, die verzögert mit einer Therapie beginnen, Antibiotika nicht indiziert einsetzen, Fehlmedikationen veranlassen oder mit der Polymedikation Probleme haben.

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Das größte Problem in der Medizin ist allerdings wohl der Patient, vor allem jener, der nicht begreift, was und warum der Arzt eine bestimmte Therapie verordnet hat.

Ein Autorenteam um Peter Behner beziffert den Anteil der Therapieabbrüche auf 20 bis 30 Prozent (erschienen in dem von Stefan Burger herausgegebenen Buch „Alter und Multimorbidität“). Die Hauptursachen:

- Mangelhafte Information für den Patienten führt zu Missverständnissen.

- Mangel an Motivation führt zu Therapieabbrüchen, wenn der Erfolg einer Therapie erst längerfristig spürbar wird.

- Multimorbidität führt zu komplexer, unübersichtlicher Polymedikation. Außerdem kann die Information inkonsistent und widersprüchlich werden – die Therapie wird (teilweise) abgebrochen.

- Eine wichtige Rolle kann das Lebensumfeld eines Patienten spielen.

Dabei gibt es klare Indizien, dass ein besseres Patienten-Coaching die Compliance erheblich verbessern kann:

- Bei Depression verdoppelt eine umfassende Aufklärung die Einnahmewahrscheinlichkeit von 33 auf 66 Prozent.

- Bei Hypertonikern konnte die Intervention und Aufklärung durch den Apotheker die Compliance um 15 bis 20 Prozent verbessern.

- Eine Schulung von Asthma-Patienten verringerte das Risiko einer stationären Selbsteinweisung um 90 Prozent.

- Coaching und Betreuung von Diabetikern senken die Rate stationärer Behandlungen um 44 Prozent und die Gesundheitsausgaben um 50 Prozent.

Es liegt am Stakeholder-Paradoxon

Es ist also nicht unmöglich, die Compliance von Patienten erheblich zu verbessern, damit deren Gesundheitszustand zu bessern, mögliches Leiden zu verhindern und überdies Kosten zu sparen.

Die Literatur dazu füllt Regalwände, und schon vor Jahren hat der Gesundheits-Sachverständigenrat darauf hingewiesen, dass dem Gesundheitswesen durch mangelnde Persistenz und Adhärenz mehr an Geld verloren geht als es mit allen konventionellen (bürokratischen) Kostendämpfungsinterventionen je wieder gewinnen könnte.

Dass eine Verbesserung der Compliance trotz der schlagenden Argumente so schwierig ist, liegt am sogenannten Stakeholder-Paradoxon.

19 Milliarden Euro Sparpotenzial hat IMS für das Gesundheitswesen direkt ausgerechnet. Der weitaus größere Teil an unnötigen Kosten – zwischen 38 und 75 Milliarden Euro fällt aber außerhalb des Gesundheitswesens an: in Form von Produktivitätsverlusten, verringerten Steuer- und Sozialversicherungsbeiträgen oder vorzeitiger Verrentung oder Pflegebedürftigkeit.

Besonders augenfällig ist dies bei der Depression: der Anteil der direkten Kosten für die notwendige Medizin liegt lediglich bei zehn bis 20 Prozent. Bei Rückenschmerzen sind es 20 bis 30 Prozent. Beide Krankheiten sind durch hohe Arbeitsausfallzeiten charakterisiert.

Das heißt: Diejenigen, die den größten Nutzen einer verbesserten Compliance haben, sind in der Medizin ohne jeden Einfluss. Allenfalls der Staat kann gesetzliche Rahmenbedingungen verändern, scheitert aber oft im Räderwerk der Selbstverwaltung.

Oder er ist selbst nicht konsequent, etwa beim Abbau der mehr als 20 verschiedenen Restriktionen, die der Vertragsarzt als Folge gesetzlicher Vorgaben bei der Verordnung von Arzneimitteln im Auge behalten muss und die ihn oft zwingen, opportunistisch das Billigste zu nehmen – siehe Substitution von Generika aufgrund von Rabattverträgen.

Ärztliche Vergütung setzt Fehlanreize

Hinderlich ist auch die rein sektorale Betrachtungsweise der Stakeholder im Gesundheitswesen. Vor allem Arzneimittelkosten werden in der Regel isoliert betrachtet.

Abgerechnet wird jährlich im Rahmen der Richtgrößenprüfung und anderer für die Ärzte geltenden Quotierungen, etwa für Generika, bestimmte Innovationen und Leitsubstanzen. Einen längerfristigen investiven Gedankenansatz gibt es nicht.

Auch die ärztliche Vergütung setzt Fehlanreize: zugunsten der Menge, zu Lasten der Qualität. Nimmt man hohe Compliance als Ausweis von Qualität, dann erfordert dies bei Therapiestart und bei Therapieumstellung hohe Arbeitsintensität und Zeitaufwand für eine gute Beratung des Patienten.

„Finanzielle Anreize für die aktive Kommunikation von Arzt und Patient“ und die „Einführung des shared decision making als Bestandteil einer systematischen Betrachtung von Praxisqualität“ forderte der Sachverständigenrat in seinem Gutachten 2005.

Der EBM ist seither mehrfach reformiert worden, aber den Empfehlungen der Gesundheitsweisen wurde nicht gefolgt.

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