Kampf gegen Volksleiden

Deutsche XXL-Studie in den Startlöchern

210 Millionen Euro Kosten, 200.000 Teilnehmer: Mit der Nationalen Kohorte wollen deutsche Forscher den Volkskrankheiten auf die Spur kommen - und neue Einsichten in Chancen und Grenzen der Prävention gewinnen.

Von Jürgen Stoscheck Veröffentlicht:
Teilnehmer sollen in mehreren Studienregionen gewonnen werden.

Teilnehmer sollen in mehreren Studienregionen gewonnen werden.

© Nat. Kohorte e.V.

MÜNCHEN. Wodurch entstehen chronische Krankheiten und durch welche Faktoren werden diese begünstigt?

Antworten auf diese und viele andere Fragen erhoffen sich Wissenschaftler von der größten Gesundheitsstudie in Deutschland, die 2014 an den Start geht.

Die sogenannte Nationale Kohorte soll in den nächsten 20 bis 30 Jahren die Entstehung großer Volkskrankheiten, ihre Früherkennung und Prävention prospektiv und bevölkerungsbezogen untersuchen.

Vergleichbare Kohorten-Studien gibt es bereits in den USA, Schweden und Großbritannien. Mit dem deutschen Projekt will die hiesige Public-Health-Forschung und Epidemiologie international gleichziehen.

400.000 Bürger sollen angeschrieben werden

So wie die Studie angelegt ist, wird es sich bei den Teilnehmern um überwiegend gesunde Personen handeln, bei denen die Wissenschaftler Faktoren erheben werden, die zu einem späteren Zeitpunkt allein oder in Kombination auf bestimmte Krankheiten hinweisen könnten. Von solchen Einsichten würde nicht zuletzt auch die Prävention profitieren.

Die Wissenschaftler erhoffen sich von der Nationalen Kohorte vor allem neue Erkenntnisse über den Einfluss von genetischen Faktoren, Umweltbedingungen, sozialem Umfeld und Lebensstil auf die Entstehung von Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Demenz, Depression oder Krebs, aber auch bei Infektionskrankheiten.

In den ersten Monaten des kommenden Jahres sollen bundesweit 400.000 Bürger zwischen 20 und 69 Jahren, die zufällig ausgewählt wurden, einen Brief erhalten, in dem sie aufgefordert werden, sich an der Studie zu beteiligen.

Eine aktive Bewerbung um eine Teilnahme ist nicht möglich, "da sonst keine statistisch belastbaren Informationen nach dem mathematischen Zufallsprinzip gewonnen werden können", heißt es.

Die Teilnahme an der Studie ist freiwillig, jeder Interessent kann ohne Angabe von Gründen seine Teilnahme widerrufen. Vor der Mitwirkung an der Studie sollen sich die Teilnehmer auch entscheiden, ob sie über Ergebnisse der Untersuchungen informiert werden wollen.

Auch das Recht auf Nichtwissen werde gewahrt, heißt es. Ein unabhängiger Beirat werde die Einhaltung der ethischen Standards überwachen.

200.000 Teilnehmer angestrebt

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An der Studie selbst sollen insgesamt rund 200.000 Menschen teilnehmen. In 18 über ganz Deutschland verteilten Studienzentren nehmen alle Teilnehmer in einem ersten Durchgang an einer zweieinhalbstündigen Basisuntersuchung teil, etwa ein Fünftel davon durchläuft eine intensivere, etwa vierstündige Untersuchung.

Gefragt wird unter anderem nach der medizinischen Vorgeschichte, dem Lebensstil und dem sozialen Umfeld. Ergänzt werden diese Fragen durch umfassende standardisierte medizinische Untersuchungen.

Dazu gehören Lungenfunktionstests, Blutdruckmessungen, EKGs, Tests der Sinnesorgane, der körperlichen und geistigen Fitness sowie Zahnuntersuchungen. Außerdem werden Blut-, Urin-, Stuhl- und Speichelproben für künftige Untersuchungen in einer Biobank aufbewahrt. Alle Daten werden pseudonymisiert gespeichert.

Nach vier bis fünf Jahren findet ein Follow up statt.

Etwa 30.000 Teilnehmer werden zusätzlich einer Magnetresonanztomographie (MRT) unterzogen. Einzelne Studienzentren können auch noch weitere zusätzliche Untersuchungen durchführen, die sie gesondert finanzieren müssen.

Die im Laufe der Zeit gesammelten schätzungsweise 200 Millionen Blut- und andere Bioproben werden zu einem großen Teil zentral am Helmholtz-Zentrum in München eingelagert.

Die eingelagerten Proben könnten sich vielleicht sogar als "epidemiologische Goldgrube" erweisen: Dank der rasanten Entwicklung in der Genetik erhoffen sich die Wissenschaftler, dass sie bei der Untersuchung der Proben von Gesunden und Erkrankten in Zukunft bestimmte Marker entdecken, die heute noch gar nicht bekannt sind.

210 Millionen Euro stehen zur Verfügung

Beteiligt an dem Projekt sind insgesamt 24 Forschungseinrichtungen der Helmholtz- und Leibniz-Gemeinschaft sowie 14 Universitäten.

Weitere zentrale Einrichtungen der Nationalen Kohorte sind eine Treuhandstelle, die personenbezogene Daten verwaltet, ein Datentransferzentrum, ein Kompetenzzentrum Sekundärdaten sowie ein zentrales Daten- und ein zentrales Qualitätsmanagement.

Um die Datenbasis weiter zu verbreitern, ist auch an eine Verknüpfung mit Krebsregistern und Daten von Kassen gedacht, vorausgesetzt die Studienteilnehmer stimmen zu.

Für das Projekt stehen zunächst in den kommenden zehn Jahren 210 Millionen Euro zur Verfügung, zwei Drittel finanzieren Bund und Länder, ein Drittel die Helmholtz-Gemeinschaft.

Geld und Gesundheit in Abgleich gebracht

Bei der Nationalen Kohorte werden auch nicht-medizinische Risikofaktoren für die Entstehung von Krankheiten untersucht.

Die Gesundheit der Menschen wird nicht nur von medizinischen Faktoren, sondern auch von sozialen und psychosozialen Einflüssen bestimmt. In der Nationalen Kohorte werden deshalb auch sozioökonomische Faktoren, wie Ausbildung, Stellung im Erwerbsleben, Durchschnittseinkommen pro Kopf, Arbeitslosigkeit, Migrationshintergrund und andere Funktionen untersucht.

Dabei wollen die Wissenschaftler herausfinden, wie die Risikofaktoren für die Entstehung von Krankheiten in der Bevölkerung verteilt sind, ob und warum es regionale Unterschiede gibt und ob es eventuell für bestimmte Gruppen bessere Möglichkeiten der Früherkennung, Prävention und Gesundheitsförderung gibt.

Zu den spannenden Fragen gehören auch Untersuchungen, von denen man sich Aufschluss darüber erhofft, ob eine unterschiedliche Lebenserwartung mit den jeweiligen Lebens- und Arbeitsbedingungen sowie dem Lebensstil begründet werden kann, und welche Rolle dabei die medizinische Versorgung spielt. Ins Blickfeld rücken auch Umweltfaktoren wie etwa Belastungen durch Feinstaub oder Lärm bis hin zum Einfluss ungünstiger Arbeitsbedingungen.

Viele Untersuchungen haben nach Angaben der Wissenschaftler bereits gezeigt, dass die Unterschiede zwischen den sozialen Gruppen zum Teil stark ausgeprägt sind und nahezu alle wichtigen Erkrankungen betreffen. Erklärt wird dies häufig durch unterschiedliche Lebens- und Arbeitsbedingungen, kulturelle Einflüsse, Erziehung und Bildung sowie die medizinische Versorgung.

Darüber hinaus gibt es aber auch geografische Unterschiede. So wird die Diagnose Herzinfarkt in Ostdeutschland häufiger gestellt als im Westen, und die Lebenserwartung der Betroffenen ist in Ostdeutschland niedriger. Studien zeigen zudem, dass geografische Lage einerseits und sozioökonomischer Status andererseits miteinander zusammenhängen.

Vor diesem Hintergrund gehen die Wissenschaftler davon aus, dass die Untersuchung sozialer Determinanten in bevölkerungsbezogenen epidemiologischen Studien unter medizinsoziologischen und gesundheitswissenschaftlichen Aspekten "von hoher Bedeutung" ist. Daher sei eine biopsychosoziale Ausrichtung der Forschung und die interdisziplinäre Kooperation entscheidend, um die Entstehung von Krankheiten zu verstehen und daraus eine moderne Gesundheitsförderung ableiten zu können, die auch soziale Aspekte berücksichtigt, heißt es zur Begründung der beabsichtigten Forschungen. (sto)

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