Atemwegsinfekte

Auf Spurensuche in den Praxen

In jeder Wintersaison taucht die These erneut auf: Bei Atemwegsinfekten werden zu oft Antibiotika verordnet. Doch bislang gibt es überhaupt keine Daten aus deutschen Praxen, die den Einsatz von Antibiotika näher beleuchten. Das soll sich mit der Change 2 Studie ändern.

Rebekka HöhlVon Rebekka Höhl Veröffentlicht:
Harmloser Schnupfen oder mehr? Die Change 2 Studie zu Atemwegsinfekten soll vor allem auch eines liefern: wissenschaftlich fundierte Daten zum Verlauf von Atemwegsinfekten.

Harmloser Schnupfen oder mehr? Die Change 2 Studie zu Atemwegsinfekten soll vor allem auch eines liefern: wissenschaftlich fundierte Daten zum Verlauf von Atemwegsinfekten.

© Anna Subbotina / fotolia.com

NEU-ISENBURG. "Wir können es uns nicht leisten, uns nur auf Daten aus anderen Ländern zu berufen." Besser könnte man die Motivation, die es braucht, um eine der bundesweit größten epidemiologischen Studien auf die Beine zu stellen, gar nicht formulieren.

Der Satz stammt von Professor Attila Altiner, Direktor des Instituts für Allgemeinmedizin an der Universität Rostock.

Gemeinsam mit der Infektiologie des Uniklinikums Freiburg und der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin des Uniklinikums Dresden hat Altiner die größte Studie, die jemals in Deutschland zu Atemwegsinfekten gemacht wurde, ins Leben gerufen.

Dabei geht es bei der in mehreren Bundesländern durchgeführten Studie darum, ein ganzes Set an Versorgungsfragen zu klären. Das funktioniert auch deshalb, weil die AOK die Studie unterstützt.

Über 180 Haus- und Kinderarztpraxen und mehr als 30.000 AOK-Patienten aus den Regionen Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Berlin, Thüringen, Sachsen und Baden-Württemberg sollen teilnehmen.

AOK steuert Daten bei

Die "Atemwegsinfekte in Haus- und Kinderarztpraxen Studie"

Das Ziel: Die Studie soll wissenschaftliche Erkenntnisse über den Verlauf von Atemwegsinfekten liefern, die helfen, langfristig Diagnostik und Therapie zu verbessern.

150 Haus-und Kinderärzte beteiligen sich bereits an der Studie, rund 180 sollen es insgesamt sein.

Im Januar 2013 startete die Studie. Die Patienten - das Ziel ist, dass 30.000 AOK-Versicherte aus mehreren Bundesländern teilnehmen - werden in drei Zyklen rekrutiert. In der ersten Rekrutierungsphase haben sich 6000 Patienten eingeschrieben. Erste Zwischenergebnisse werden Ende 2014 erwartet.

Förderung: Die Studie wird vom Bundesministerium für Gesundheit gefördert.

Mehr Infos unter: allgemeinmedizin.med.uni-rostock.de

Das Spannende daran: "Wir haben erstmals epidemiologische Daten direkt aus den Praxen", erklärt Altiner. Der Aufwand für die Praxisteams ist dabei relativ gering.

Kommt ein AOK-Versicherter mit Atemwegsinfekten in eine der teilnehmenden Praxen, wird er gefragt, ob er der wissenschaftlichen Auswertung seiner Daten zustimmt, die auch ohne Studie in der Praxis erfasst würden.

Außerdem wird er gebeten, kurz schriftlich zu beantworten, seit wann seine Beschwerden bestehen und um welche Beschwerden es sich genau handelt. "All das läuft aber unter strengen Datenschutzanforderungen", so Altiner, "die Daten werden auf unterschiedlichen Ebenen pseudonymisiert und über ein Trustcenter an der Universität Hamburg zusammengeführt."

Ein Rückschluss auf den einzelnen Patienten oder Arzt sei nicht möglich. Erfasst werden Daten zur Medikation, Arbeitsunfähigkeit, Überweisungen an spezialisierte Fachärzte und Aufenthalte in medizinischen Einrichtungen (z.B. stationäre Behandlung) über einen Zeitraum von 12 Monaten vor der Behandlung bis sechs Wochen danach.

Ein ganzes Set an Fragen wird geklärt

"Es handelt sich um eine unabhängige und rein wissenschaftliche Studie", betont Altiner. Die AOK - beteiligt sind aktuell die AOK Nordost, die AOK Plus und die AOK Baden-Württemberg - unterstütze die Studie zwar, nehme aber keinen Einfluss auf Ausgestaltung und Datenauswertung.

Altiner und seine Kollegen erhoffen sich auch Antworten auf die Frage, was Prädiktoren für eine Antibiotikaverordnung im Praxisalltag sind. Die Wissenschaftler haben in diesem Zusammenhang weitere Fragen.

"Wir wissen überhaupt nicht, was mit Patienten passiert, die ein Antibiotikum verordnet bekommen und bei denen sich Nebenwirkungen zeigen", sagt er. "Oder ist es wirklich so, dass Frauen mehr Antibiotika als Männern verordnet werden, und Senioren häufiger als jüngeren Patienten?"

Leise klingt dabei auch immer das Thema bakterielle Resistenzen mit, doch vorrangiges Ziel ist es, erst einmal wissenschaftlich fundierte Daten zum Verlauf der Atemwegsinfekte zu erhalten.

Wie es dazu kommt, dass sich eine Krankenkasse an der Studie beteiligt, hat Altiner schnell erklärt: Zum einen kenne man sich aus vorherigen Projekten - und das auf Landes- und Bundesebene.

Zum anderen seien die beteiligten AOKen und die Allgemeinmedizin Rostock in Bezug auf die Versorgungsforschung "auf derselben Spur".

Daten aus realer Versorgung erheben

"Wir vertreten dieselbe Meinung: Nur wenn wir aus der realen Versorgung Daten erheben, können wir auch etwas in der Versorgung bewegen."

So positioniert sich auch die AOK ganz klar in die Richtung, dass sie mithilfe der Studie die Versorgung weiterentwickeln will und eben nicht nur auf die Kostenbremse treten will.

Zufällig ausgewählte teilnehmende Ärztinnen und Ärzte werden zu verschiedenen Zeitpunkten eingeladen, u.a. an Webinaren zum Thema Arzt-Patienten-Kommunikation bei akuten Atemwegsinfekten teilzunehmen.

"Wir wollen auch ermitteln, ob bestimmte Materialien, die wir dafür entwickelt haben, von den Kolleginnen und Kollegen als hilfreich bewertet werden", so Altiner.

Interview: Es geht nicht nur um ein "Zu Viel"

Ärzte Zeitung: Immer wieder wird moniert, die Verschreibungsrate von Antibiotika sei zu hoch. Greifen Ärzte tatsächlich zu schnell zum Rezeptblock? Oder sind die Patienten zu fordernd?

Professor Attila Altiner: Deutschland hat im internationalen Vergleich eine eher geringe Antibiotika-Verordnungsrate bei Atemwegsinfekten. Dennoch können wir uns noch verbessern. Wir haben es bei uns nicht mit einem Problem der Unwissenheit bei Ärzten zu tun. Es liegt vielfach auch nicht daran, dass Patienten zu schnell ein Antibiotikum fordern. Die Ursachen für nicht erforderliche Antibiotikaverordnungen liegen eher im nicht-medizinischen Bereich. Es kommt während der Behandlung manchmal zu Missverständnissen zwischen Arzt und Patient. Etwa weil der Patient dem Arzt einen sehr hohen Leidensdruck kommuniziert. Und der Arzt vielleicht empfindet, dass er mit der Verordnung dann eher auf der "sicheren Seite" steht.

Die Studie erprobt auch Elemente zur Arzt-Patienten-Kommunikation. Was versprechen Sie sich davon?

Altiner: Wir wollen herausfinden, ob es für unsere Kolleginnen und Kollegen in Deutschland hilfreich ist, wenn man sich für bestimmte Aspekte der Arzt-Patienten-Kommunikation sensibilisiert. Wir denken, dass, wenn Missverständnisse abgebaut werden, auch die Entscheidungsfindung für oder gegen rezeptpflichtige Medikamente wie z.B. Antibiotika auf einer rationaleren Basis geschehen kann.

Was ist das Besondere an der Studie?

Altiner: Wir bekommen zum ersten Mal in Deutschland zu Atemwegserkrankungen belastbare epidemiologische Daten aus den Praxen. Und zwar die direkten Patientendaten - natürlich pseudonymisiert. Der Vorteil: Wir erheben echte Patientendaten und keine wissenschaftlich wenig belastbaren Diagnose-Codes.Wir hoffen, dass wir aufgrund der Größe der Studie eine ganze Reihe von bislang ungeklärten Fragen beantworten können. Wir wissen etwa überhaupt nicht, was Prädiktoren für die Verordnung von Medikamenten bei akuten Atemwegsinfekten sind. Oder ob es doch zu Komplikationen kommt, wenn etwa sehr wenig Antibiotika verordnet werden. (reh)

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