BKK Gesundheitsreport

Dauerkranke fallen durch die Maschen

Die Gesellschaft wird älter, dadurch gibt es immer mehr chronisch kranke Menschen. Im auf Akutversorgung ausgerichteten deutschen Gesundheitssystem drohen sie und ihre Arbeitskraft unterzugehen, warnt ein Report.

Anno FrickeVon Anno Fricke Veröffentlicht:
Muskel- und Skeletterkrankungen wie Rückenschmerzen sind unter den BKK-Versicherten häufige Ursachen für längere Krankschreibungen.

Muskel- und Skeletterkrankungen wie Rückenschmerzen sind unter den BKK-Versicherten häufige Ursachen für längere Krankschreibungen.

© selimaksan / iStock / Thinkstock

BERLIN. "Rücken ist oft, psychische Krankheiten sind lang." Auf diese Kurzformel brachte Franz Knieps, Vorstand des BKK-Dachverbandes, die Erkenntnisse aus dem aktuellen Gesundheitsreport des Verbandes der Betriebskrankenkassen.

Der Report nimmt die Langzeiterkrankungen in den Blick. Nicht ohne Grund: Fast die Hälfte (47,5 Prozent) aller Fehltage der bei den BKKen versicherten Arbeitnehmer geht auf Langzeiterkrankungen zurück.

Dabei sind die Betroffenen länger als sechs Wochen krankgeschrieben. Unter den BKK-Versicherten sind die häufigsten Ursachen für längere Krankschreibungen demnach Muskel- und Skeletterkrankungen sowie psychische Störungen.

Im Schnitt waren Langzeitpatienten mit einer muskuloskelettalen Diagnose 138 Tage je Fall krankgeschrieben, mit psychischen Diagnosen sogar 185 Tage. In den vergangenen zehn Jahren lag der Anteil aller Fälle von Arbeitsunfähigkeit nahezu unverändert bei vier Prozent.

"Lawine kommt auf uns zu"

Der Anteil der Langzeiterkrankungen nehme fortlaufend zu, sagte der Medizinsoziologe Professor Holger Pfaff, der den Report "Langzeiterkrankungen" gemeinsam mit Knieps herausgegeben hat. Darauf sei das Gesundheitssystem in Deutschland nicht vorbereitet.

"Das System ist ausgerichtet auf Akutversorgung und versagt bei chronischen Krankheiten", sagte Pfaff. Genau die würden mit der zunehmenden Alterung der Bevölkerung jedoch zunehmen. "Es kommt eine Lawine an chronischen Erkrankungen auf uns zu", sagte Pfaff.

Einen Masterplan "Chronische und Langzeiterkrankungen" forderten Knieps und Pfaff bei der Vorstellung des Reports am Mittwoch in Berlin. Der 440 Seiten starke Band versammelt Beiträge von Ärzten und Gesundheitswissenschaftlern sowie Landes- und Bundespolitikern.

Der Masterplan könne sich am nationalen Krebsplan orientieren. Kerne einer solchen konzertierten Aktion sollten die gesundheitliche Prävention über die gesamte Lebensspanne hinweg einerseits und die Verzahnung der Akutversorgung mit der Rehabilitation und der psychosozialen Versorgung sein.

Denkbar seien gesetzliche Zwänge zur Zusammenarbeit von Haus- und Betriebsärzten sowie Krankenhäusern und Reha-Kliniken. Auch die Integration der Rehakliniken in Großkrankenhäusern sei eine Option, um die Sektorengrenzen zu Abteilungsgrenzen abzuschwächen.

Betriebliches Gesundheitsmanagement könnte Abhilfe schaffen

Auch Patientenbudgets nach dem Vorbild der Behindertenhilfe könnten die Koordinierung von Behandlungen stärken. "Das deutsche Gesundheitswesen ist nicht am Krankheitsverlauf eines Patienten orientiert, was bei Langzeit-Patienten bitter nötig wäre, sondern agiert in Zeiten globaler Informationsvernetzung noch mit Abgrenzung und Abschottung", sagte Franz Knieps.

Abhilfe versprechen sich Knieps und Pfaff vom Betrieblichen Gesundheitsmanagement und vom Betrieblichen Eingliederungsmanagement.

Den industriellen Kernen messen sie dabei einen Vorsprung beim Gesundheitsmanagement zu. In Betrieben mit weniger als neun Mitarbeitern seien 49 Prozent der Fehltage auf Langzeiterkrankungen zurückzuführen, in den industriellen Kernen reduziere sich dieser Wert auf 40 Prozent.

Die anfälligste Branche sind demnach die Postdienste, in denen 53 Prozent der Fehltage auf das Konto von Langzeiterkrankungen gehen. Mit 40 Prozent ebenfalls stark betroffen sei der Bereich Erziehung und Wissenschaft. Auslöser seien oft Arbeitsdruck und fehlende Gratifikation, sagte Pfaff.

Zahlen und Fakten

- Im Vergleich zum Vorjahr ist der Krankenstand 2014 bei den gut neun Millionen BKK-Versicherten von 4,88 auf 4,75 Prozent gesunken.

- 91 Prozent aller BKK-Versicherten waren 2014 mindestens einmal in ambulanter Behandlung. Aus den meisten ambulanten Konsultationen (79 Prozent) erfolgte keine Arbeitsunfähigkeit.

- 13,2 Prozent der BKK-Versicherten war 2014 im Krankenhaus, im Schnitt 8,9 Tage. Von den Behandlungstagen in Krankenhäusern ging im Schnitt jeder fünfte auf einen Langzeitfall von mehr als sechs Wochen Dauer zurück.

- Die stationäre Behandlung von psychischen Störungen gilt als zeitaufwändig. Dementsprechend gehen von den Langzeitkrankenhausbehandlungen die weitaus meisten auf solche Diagnosen zurück (siehe Grafik).

Insgesamt zählt die BKK besonders viele Krankenhaustage aufgrund von Depressionen. 30 Prozent der Langzeitfälle gehen auf Depressionsdiagnosen zurück.

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