Im Gesundheitswesen

Patientenorientierung fehlt zu oft

Es sind vor allem Kosten und Mengen, die das Gesundheitssystem an vielen Stellen beherrschen. Ein neuer Ansatz zielt auf ethische Fragen und die Patientenorientierung. Doch wie können die nötigen "klugen Entscheidungen" getroffen werden?

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BERLIN. Es gibt sie, diese "Wunderpraxen". Arztpraxen, in denen - so formulierte es der Inhaber einer solchen Praxis, Dr. Wolfgang Blank, auf dem Ersten Deutschen Kongress Value Based Healthcare der Ärztekammer Berlin - "das Beste gerade gut genug ist für den Patienten".

Mehr noch: in denen sich alles daran orientiert, eine perfekte Rundumversorgung für die Patienten zu realisieren und ihnen sogar "Wunscherfüller" zu sein.

Weil sich Blank, Landarzt in Bayern und Preisträger des Bayerischen Gesundheitspreises sowie des CharityAwards der Fachverlagsgruppe Springer Medizin, in seiner Hausarztpraxis an diesen Prinzipien orientiert, schafft er nach eigenen Angaben eine patientennahe Behandlung, bei der Über-, Unter- und Fehlversorgung vermieden werden können.

Die Ausrichtung am Patienten, wie Blank sie lebt, ist vielen Versorgern nicht in die Wiege gelegt. "Unser Gesundheitssystem muss aber patientenorientierter werden, um an Qualität zu gewinnen", unterstrich Oliver Schenk, Leiter der Abteilung Grundsatzfragen der Gesundheitspolitik im Bundesgesundheitsministerium, bei der Berliner Veranstaltung.

Es brauche mehr gute und verständliche Informationen für Patienten, und es brauche mehr gemeinsame Entscheidungen von Arzt und Patient.

Es sind Überlegungen, die Sir John Muir Gray mit seinem Konzept der "Value Based Healthcare" aus Großbritannien aufgreift.

Ziel ist es, an Qualität zu gewinnen

In dem Modell eines patientenorientierten Gesundheitssystems geht es um Fragen nach einer gerechten Verteilung von Ressourcen, der angemessenen Anwendung von Technologien und einer grundsätzlichen Ausrichtung am Wert für den Patienten.

Auch Überversorgung ist dabei ein Thema. Dass diese in der Versorgungsrealität keine Seltenheit ist, zeigt eine Umfrage der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM), bei der im Herbst 2015 rund 4200 Interviews mit Mitgliedern ausgewertet wurden.

Etwa 70 Prozent gaben an, mehrmals pro Woche überflüssige Leistungen durchzuführen, referierte der Vize-Vorsitzende der DGIM Professor Gerd Hasenfuß.

93 Prozent sehen dadurch auch steigende Ausgaben begründet. Die Sorge vor Behandlungsfehlern (79 Prozent) und der Druck von Patienten (63 Prozent) wurden als Gründe für zu viel durchgeführte Leistungen angeführt.

Auch Unterversorgung, zeigt die Erhebung, kommt vor, wenngleich seltener. Knapp 23 Prozent gaben an, mehrmals pro Woche indizierte Leistungen nicht durchgeführt zu haben.

Der Hauptgrund: Die in den Leitlinien gemachten Empfehlungen seien widersprüchlich, nicht verständlich oder unübersichtlich.

Abhilfe können - ähnlich wie von Blank bereits praktiziert - kluge Entscheidungen sein. Entscheidungen, betonte Hasenfuß, die evidenzbasiert sind und sich an publizierten Studien orientieren.

Klug entscheiden bedeutet hierbei per DGIM-Definition, von einer häufig durchgeführten Maßnahme, die aber wissenschaftlich nachweislich keinen Nutzen bringt, abzusehen, während man eine häufig unterlassene Maßnahme, deren Nutzen aber wissenschaftlich belegt ist, durchführt. "Kluge Entscheidungen fördern die Behandlungsqualität", ist Hasenfuß überzeugt.

Stärkerer Fokus auf Lebensqualität

Nicht förderlich sei hingegen der heutige Fokus im deutschen Gesundheitswesen auf die Endpunkte Mortalität und Morbidität, glaubt Professor Josef Hecken.

Wichtig ist nach Ansicht des Unparteiischen Vorsitzenden des Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA) zu diskutieren, ob alles, was theoretisch machbar ist, auch tatsächlich für den Einzelnen einen patientenindividuellen Mehrwert hat.

Sprich: Bringt eine Chemotherapie wirklich noch etwas, wenn sie die Lebensdauer des Patienten lediglich um drei Monate verlängert, der Patient aber massiv unter den Nebenwirkungen leidet? "Wir müssen den Wert einer Behandlung an der Verbesserung der Lebensqualität für den betroffenen Patienten messen", so Hecken.

Der Berliner ÄK-Präsident Dr. Günter Jonitz sieht die richtige Strategie für mehr Behandlungsqualität in den Schlagwörtern "Systematisieren, Optimieren und Humanisieren" zusammengefasst.

Systematisieren durch gezielten Einsatz von DMPs oder Integrierte Versorgungsverträge; Optimieren durch transparente Strukturen wie "Klug entscheiden"; und Humanisieren durch den Fokus auf die Bedürfnisse und Gefühle des Patienten. (mam)

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