Studien

Hausarzt-Patienten sind meist aussen vor

Fast 90 Prozent aller Patienten werden vom Hausarzt versorgt. Geforscht wird aber meist in klinischen Studien. Das sollte sich dringend ändern, fordert der Sachverständige Professor Ferdinand Gerlach.

Christian BenekerVon Christian Beneker Veröffentlicht:
Ältere Patientin bei der Hausärztin: Alte Patienten und Kinder kommen in vielen Studien kaum vor.

Ältere Patientin bei der Hausärztin: Alte Patienten und Kinder kommen in vielen Studien kaum vor.

© Kzenon/Fotolia.com

HAMBURG. Es fehlt an einer Versorgungsforschung aus der realen Welt des Praxisalltags, die die "klaffende Lücke der letzten Meile" zum Patienten schließen könnte. Das sagte der Frankfurter Allgemeinmediziner Professor Ferdinand Gerlach auf dem Symposium der Techniker Krankenkassen (TK) zum zehnjährigen Bestehen des wissenschaftlichen Institutes der Kasse, dem "WINEG".

So werden zum Beispiel kontrollierte Studien immer noch an Patienten gemacht, die in der Hausarztpraxis kaum vorkommen. Das Problem: Was unter solchen Laborbedingungen einer klinischen Studie funktioniert, muss nicht unter den Alltagsbedingungen einer Hausarztpraxis funktionieren.

Keine Kinder, keine Senioren

So greifen kontrollierte Studien oft auf vergleichsweise wenige Studienpatienten zurück, berücksichtigen keine Ko-Morbidität oder Ko-Medikation, keine Kinder oder alte Menschen, arbeiten mit zu eng definierten Indikationen und zu kurzer Beobachtungszeit.

Die Konsequenzen solcher rein klinischen Studien sind erheblich. So ergab ein Vergleich von placebo-kontrollierten Studien in vier großen medizinischen Zeitschriften (Olfson, Marcus Health Affairs 2013;32:1116-1125), dass die in den Studien untersuchte Wirksamkeit über die Jahre kontinuierlich abgenommen hat. Zeigte der Gegenstand der Studien zwischen 1971 und 1980 im Schnitt eine noch 4,51 mal höhere Wirksamkeit als das entsprechende Placebo, lag dieser Wert zwischen 2001 und 2010 bei 1,36. "Je mehr man auf die Quantität der Studien drängt, um so kleiner wird der Effekt", resümierte Gerlach.

Um so schwieriger wird es dann, wenn die Studienergebnisse der Universitätskliniken auf ganz lebensechte Bedingungen, auf die "real world" der Hausarztpraxis treffen, wie Gerlach sagt: auf ein anderes Krankheitsspektrum, wie Infekte oder Befindlichkeitsstörungen, auf mildere Verläufe, zum Beispiel bei Depressionen, auf andere Begleiterkrankungen und ein anderes Medikationsspektrum, auf Menschen verschiedenen Alters, und so weiter. Hinzu treten "Kontexteffekte, die mit erfasst werden können". Zum Beispiel, wie die "Droge Arzt" wirkt oder das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient.

Zwar sind viele Studienergebnisse im Hinblick auf Hausarztpatienten von geringerer Relevanz. Aber die Versorgungsforschung vor Ort kann diese Lücke verdeutlichen und überbrücken. "Es geht dabei um zwei Fragen", sagte Gerlach: "Sind die erforschten Strategien zur Patientenversorgung unter verschiedenen Bedingungen tatsächlich alltagstauglich und praktikabel? Und wirken sie unter diesen Bedingungen genauso und haben sie den gleichen Nutzen, wie in den kontrollierten Studien zuvor?"

So seien Studien etwa mit Mehrfachkranken nötig, Deprescribing-Studien (Absetzstudien), oder Outcomeforschung über patientenzentrierte Eckpunkte.

Hoffnung auf Innovationsfonds

Die Möglichkeiten, Versorgungsforschung auch in den Praxen umzusetzen, seien gestiegen. Immerhin sollen von 2016 bis 2019 jährlich 75 Millionen Euro aus dem Innovationsfonds für Forschungsprojekte in der Versorgungsforschung fließen. Der Löwenanteil aber fließe nach wie vor in die Grundlagenforschung und die klinische Forschung. Und das, obwohl es nicht nur um Nutzen und Wirksamkeit neuer Diagnostik und Therapie gehe, sondern auch um schon längst bekannte Dinge, so Gerlach.

Dabei versorgen Kliniken pro Jahr nur 0,5 Prozent der Bevölkerung, Hausarztpraxen indessen über 90 Prozent. Die Versorgungsforschung ist also auch in Hausarztpraxen notwendig. Gerlach: "Wir müssen endlich weg von der Krankheit und hin zur patientenbezogenen Therapieoptimierung."

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