Überflüssige Ops

Zertifikatehandel für Kliniken

Hüft-TEP und Co: Die Kritik an den steigend Op-Zahlen wächst. Der Vorwurf: Viele Operationen seien medizinisch gar nicht notwendig. Jetzt wollen die Kassen ein neues Steuerungsinstrument - kopiert von der Energiebranche.

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Vorbild für das Gesundheitssystem? Energiesektor mit seinem Zertifikatehandel.

Vorbild für das Gesundheitssystem? Energiesektor mit seinem Zertifikatehandel.

© Jochen Tack / imago

DÜSSELDORF (nös). Nicht alles, was medizinisch möglich ist, ist auch immer medizinisch notwendig. Auf diese banale Weisheit wird seit geraumer Zeit immer öfter hingewiesen. Hintergrund ist die Diskussion um die Mengenausweitung in der stationären Versorgung.

Jetzt preschen die Krankenkassen erneut mit einer Idee vor, wie sie diesem Trend Einhalt gebieten wollen: ein Zertifikatehandel für Kliniken, entlehnt beim CO2-Zertifikatehandel in der Energiewirtschaft.

Erst vor wenigen Wochen sahen sich die Krankenkassen durch ein neues - von ihnen in Auftrag gegebenes - Gutachten in ihrer Kritik bestätigt: Deutlich weniger als die Hälfte des Wachstums bei den Klinikbehandlungen sei mit der demografischen Entwicklung begründbar, sagte damals Dr. Boris Augurzky.

Der Gesundheitsökonom vom Rheinisch-Westfälischen Institut für Wirtschaftsforschung (RWI) hatte im Auftrag des GKV-Spitzenverbands die Mengenentwicklung im Kliniksektor in den Jahren von 2006 bis 2010 untersucht.

Sein Ergebnis: Ein Mengenplus von 13 Prozent beziehungsweise 1,3 Millionen stationären Behandlungen mehr. Dafür müsse es noch andere Gründe als nur die Demografie geben - etwa ökonomische.

Gut bezahlte Eingriffe

Der Krankenhausexperte des GKV-Spitzenverbands, Dr. Wulf-Dietrich Leber, wollte für die "brutal stetige Mengenentwicklung" rationale Gründe erkannt haben: Was im DRG-System besser vergütet wird, werde eben häufiger gemacht.

Sein Verbandsvorstand Johann-Magnus von Stackelberg brachte es so auf den Punkt: "Vieles deutet darauf hin, dass in den Kliniken aufgrund ökonomischer Anreize medizinisch nicht notwendige Leistungen erbracht werden."

Beispielhaft werden immer wieder Eingriffe am Muskel-Skelett-System angeführt, etwa bei einem Bandscheibenproblemen, oder der Implantation einer Hüft- oder Knie-TEP.

Diese Prozeduren werden vergleichsweise gut vergütet - ein denkbarer Anreiz für Kliniken, zunehmend um Patienten mit entsprechenden Erkrankungen zu buhlen.

Was ist der Casemix?

Der Casemix entspricht der Summe aller nach Schweregraden gewichteten stationären Fälle auf DRG-Ebene.

Ein Beispiel: Im Jahr 2010 behandelten die Krankenhäuser rund 18 Millionen Patienten. Deren Erkrankungen wurden nach ihrer Schwere mit einem Faktor multipliziert. Leichte Krankheiten mit einem Faktor unter eins, schwerere mit Faktoren über eins. Daraus ergab sich in der Summe eine Zahl von 19 Millionen Casemixpunkten.

Wissenschaftler empfehlen, diese Punkte den Krankenhäusern zuzuordnen und in Form von Zertifikaten handelbar zu machen. Die Menge könne dann über die Ausgabe neuer Zertifikate zum Beispiel in Abhängigkeit von der Demografie gesteuert werden. (af)

Als Instrument gegen die Leistungsausweitung brachten die Studienautoren, zu denen auch der Gesundheitsökonom Professor Jürgen Wasem von der Uni Duisburg-Essen zählt, den Zertifikatehandel von Casemix-Punkten in Spiel.

Zertifikate "ernsthaft prüfen"

Tatsächlich muss ein neues Instrument her. Denn die bislang üblichen Mehrleistungsabschläge auf Leistungen oberhalb des Budgets hat die schwarz-gelbe Regierung gerade mit dem Psych-Entgeltgesetz bis Ende 2014 befristet. Danach entfallen sie vollständig.

Jetzt haben sich erneut Kassenvertreter für den Zertifikatehandel ausgesprochen - zunächst begrenzt auf elektive Eingriffe wie Hüft- und Knieoperationen.

Der Montagsausgabe des "Handelsblatts" sagte der neue Chef der AOK Rheinland/Hamburg, Günter Wältermann: "Wir sollten das zumindest ernsthaft prüfen."

Auch beim Spitzenverband steht das Modell offenbar auf der Agenda: "Wir prüfen derzeit die Idee, einen Handel mit Zertifikaten für Mehrleistungen bei planbaren Leistungen einzuführen", sagte Verbandsvorstand von Stackelberg dem Blatt.

Matthias Mohrmann, Mitglied im Vorstand der AOK Rheinland/Hamburg und Krankenhausexperte erklärte dem Bericht zufolge, dass die Zertifikate lediglich für Mehrleistungen gehandelt werden sollen.

Kritik von den Krankenhäusern

Kliniken, deren Leistungsmenge ausgeschöpft ist, würden dann Zertifikate von anderen Häusern erwerben, die das mit den Kassen verhandelte Volumen noch nicht verbraucht haben.

Mohrmann: "Die Kosten für die Zertifikate würden die Rendite einer solchen Op senken." Vice versa könnten Kliniken, die weniger operieren, die Einnahmen aus dem Zertifikatehandel nutzen, um etwa Kostensteigerungen zu refinanzieren.

Seitens der Politik gibt es bislang keinen eindeutigen Vorstoß in Sachen Zertifikatehandel. Doch die Diskussion dürfte nun eindeutig eröffnet sein.

Die Kliniken haben sich bereits positioniert - und ihre Abneigung gegenüber den Zertifikaten erkennen lassen.

Als Reaktion auf die RWI-Studie Ende Mai ließ der Hauptgeschäftsführer der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG), Georg Baum, erklären: "Die pauschale Verdächtigung, die Krankenhäuser würden aus nichtmedizinischen Gründen Patienten operieren, ist diffamierend und dezidiert zurückzuweisen."

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