Gesundheitsdaten

Warum Big Data Ärzten kaum nutzt

Im Gesundheitswesen werden immer mehr Daten gesammelt. Doch von allein verbessert das die Versorgung nicht - das System hat bisher eine entscheidende Schwachstelle.

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Alle relevanten Patientendaten auf Abruf in der Praxis-EDV – der Traum für jeden niedergelassenen Arzt.

Alle relevanten Patientendaten auf Abruf in der Praxis-EDV – der Traum für jeden niedergelassenen Arzt.

© Siemens / digitalstock

BERLIN. Wir brauchen mehr Versorgungsforschung, lautet ein häufig zu vernehmendes Mantra des deutschen Gesundheitswesens. Bisher freilich sind die Ergebnisse hiesiger Versorgungsforschungsprojekte unbefriedigend.

Typischerweise tut sich eine Krankenkasse mit einem Gesundheitsökonomen zusammen und analysiert das Verordnungsverhalten oder die Therapiegewohnheiten bei dieser oder jener Indikation auf Basis etwa von GKV-Routinedaten.

Die Erkenntnisse werden dann mit Hilfe von Pressekonferenzen und anderen Mitteln der modernen Politkommunikation zu penibel ausgewählten Zeitpunkten in die Öffentlichkeit geblasen.

Ergebnis: Die Ärzte sind pikiert, das deutsche Gesundheitswesen steht doof da, und der Patient in einigen bayerischen Landkreisen bekommt zwei Jahre später immer noch fünfmal häufiger ein künstliches Kniegelenk als anderswo.

Ergebnisse landen selten in Praxen

Das Kernproblem ist, dass die Ergebnisse der Versorgungsforschung nicht in die einzelne Arztpraxis zurückgespielt werden.

Würde einem Hausarzt praxisindividuell widergespiegelt, dass er bei einer bestimmten Indikation mit seinem Verordnungsverhalten entweder deutlich von der Benchmark abweicht oder aber, zum Beispiel, eine nationale Versorgungsleitlinie suboptimal umsetzt, dann würde er darüber vermutlich nachdenken.

Wenn Spiegel Online ihm wieder einmal erzählt, wie ach so über-, unter- und fehlversorgt der deutsche GKV-Patient im Allgemeinen ist, dann bewirkt das nichts.

Nun gibt es durchaus Benchmark-Rückmeldungen im Rahmen unterschiedlicher Qualitätssicherungsprojekte. Doch zum einen sind solche Projekte extrem abhängig von überdurchschnittlichem Engagement.

Zum anderem sind sie vielleicht noch nicht individuell genug. Bei einem Symposium des IT-Dienstleisters gevko in Berlin schilderte Peter Walther von dem Unternehmen Elsevier Health Analytics ein bisher nur theoretisches Szenario, das deutlich individueller und gezielter wäre als konventionelle Benchmark-Projekte.

Was Walther zur Diskussion stellte, war folgendes: Möglichst aktuelle Erkenntnisse der Versorgungsforschung auf Basis von Routinedaten könnten automatisch in das Arztinformationssystem eingespielt werden.

Diese Daten könnten einerseits zur Identifikation von Risikopatienten, andererseits zu einer Art Leitlinien- oder Qualitätscheck genutzt werden.

Der Clou dabei wäre, dass das - anders als bei der klassischen Qualitätssicherung - patientenindividuell passieren könnte.

Dazu müssten die im AIS abgelegten Patientendaten ausgewertet und mit den von der Krankenkasse zur Verfügung gestellten Versorgungsforschungsdaten abgeglichen werden.

Software gegen Klinikeinweisungen

Konkret sähe das beispielsweise so aus, dass eine Kasse auf Basis von Routinedaten Risikomodelle entwickelt, mit deren Hilfe sie Patienten identifizieren kann, die ein besonders hohes Risiko für Klinikeinweisungen, kardiovaskuläre Ereignisse oder die Entwicklung einer Depression haben.

Ein Softwaremodul, dem diese Risikomodelle zur Verfügung stehen, würde anhand der Patientendatenbank potenzielle Risikopatienten identifizieren und dem Arzt bei noch unvollständigen Daten einen Hinweis geben, welche Infos gegebenenfalls noch hilfreich wären, um eine seriöse Risikostratifizierung vorzunehmen.

Umgekehrt könnten solche IT-Module natürlich auch genutzt werden, um die Datenqualität für die Versorgungsforschung zu erhöhen. Ein Modul für den Leitliniencheck beispielsweise könnte nicht nur individuelle Hinweise geben, wenn ein Patient nicht leitliniengetreu behandelt wird.

Es könnte auch quasi in Echtzeit Daten zur Umsetzung einer Leitlinie an Versorgungsforscher liefern.

Die könnten daraus wiederum Erkenntnisse darüber generieren, welche Eigenschaften eine Leitlinie haben muss, damit sie in unterschiedlichen Versorgungssituationen auch wirklich umgesetzt wird.

Technisch wäre das alles kein Hexenwerk. Elsevier Health Analytics würde gerne Proof-of-concept-Projekte mit interessierten Partnern umsetzen.

Das Unternehmen kooperiert dabei mit dem IT-Dienstleister gevko, der sich mit seiner S3C-Schnittstelle mittlerweile eine gewisse Akzeptanz bei den AIS-Herstellern erarbeitet hat. Aber grundsätzlich könnten das auch andere Unternehmen leisten.

Chance für AIS-Schnittstelle

Der gute Draht in die AIS-Welt ist deswegen relevant, weil die Daten für solche "Big Data"-Projekte in der Arztpraxis natürlich aus dem AIS kommen müssten. Die Hoffnung auf eine einheitliche Datenschnittstelle für AIS galt lange als völlig realitätsfern.

Mittlerweile ist der politische Druck aber recht hoch geworden, sodass sich Chancen auftun.

Klar ist auch, dass Datenschutz und Datensicherheit gewahrt sein müssen, dass nur der Arzt und niemand sonst die auf "seinen" Patientendaten basierenden individuellen Empfehlungen zu Gesicht bekommt und dass Versorgungsforschung eine Anonymisierung beziehungsweise Pseudonymisierung erfordert.

Entscheidend wird sein, ob es gelingt, das Klima des jahrelangen Misstrauens zwischen allen möglichen Akteuren zu überwinden. AIS-Hersteller vertrauen sich derzeit gegenseitig genauso wenig wie KVen oder andere Ärzteverbände den AIS-Herstellern trauen oder Krankenkassen den KVen und umgekehrt.

Solange sich an dieser vieldimensionalen Kollektivneurose nichts ändert, werden sich Praxisinformationssysteme nicht in Praxisintelligenzsysteme verwandeln. Sie werden jene Datengräber bleiben, die sie derzeit sind. (gvg)

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