Hintergrund

Leitlinien: Wenn Ärzte in die Falle tappen

Bei der Gefährdung ärztlicher Entscheidungsfreiheit denken viele zunächst an Korruption. Dabei gibt es eine viel harmloser anmutende Falle, in die Ärzte tappen können: lückenhafte Leitlinien.

Rebekka HöhlVon Rebekka Höhl Veröffentlicht:
Vorsicht Leitlinie: Im schlimmsten Fall haftet der Arzt.

Vorsicht Leitlinie: Im schlimmsten Fall haftet der Arzt.

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"Ärzte merken gar nicht, wie schnell sie in eine Falle tappen können", lautete die Botschaft von Dr. Gisela Albrecht, Geschäftsführerin der Kaiserin Friedrich-Stiftung, beim diesjährigen Rechtssymposium der Stiftung in Berlin.

Ein Satz, der auf kaum einen Bereich so gut zutrifft, wie auf die medizinischen Leitlinien. Die sind nämlich nicht nur haftungsrechtlich weniger harmlos, als vermutet.

Sie würden, so Rechtsanwältin Dr. Constanze Püschel, auch in die Entscheidungsfreiheit von Ärzten eingreifen.

Dabei beginnt das Problem der Leitlinien schon in ihrer Beschaffenheit. Anders als Richtlinien, an die sich Ärzte laut Püschel verbindlich halten müssten, weil sie in der Regel durch eine Institution des Gesetz gebers erlassen würden - und weil ein Nichtbeachten direkte Sanktionen hervorrufe -, seien Leitlinien lediglich Entscheidungshilfen für den Arzt.

Sie stellten "Handlungskorridore" dar, von denen in begründeten Fällen nicht nur abgewichen werden könne, sondern auch abgewichen werden müsse, erklärte Dr. Susanne Weinbrenner, stellvertretende Institutsleiterin beim Ärztlichen Zentrum für Qualität in der Medizin (ÄZQ).

Doch der Handlungskorridor ist sehr viel schmaler, als vermutet. Püschel: "Vom Arzt wird erwartet, dass er die qualitätsgerecht zustande gekommenen, aktuellen S3-Leitlinien im Rahmen seiner Entscheidungsfindung beachtet."

Denn vieles spreche dafür, dass die Leitlinien den aktuellen medizinischen Standard abbilden würden. Und an diesem - so zumindest verlangt es die gängige Rechtsprechung - ist die Therapie auszurichten.

Ärzte können nicht jede Leitlinie prüfen

Aber auch Leitlinien können Informationslücken beinhalten. Und genau hier liegt die erste Falle, in die Ärzte unwissentlich tappen können: Komme ein Patient zu Schaden, weil sich der Arzt an eine Leitlinie gehalten habe, die lückenhafte Daten enthalte, könnten dem Arzt hieraus haftungsrechtliche Konsequenzen drohen, sagte die Berliner Juristin.

Püschel räumte aber auch ein, dass man von keinem Arzt verlangen könne, dass er jede Leitlinie prüfe. Trotzdem wird er sich vor Gericht verantworten und gute Argumente liefern müssen.

Auch Weinbrenner sieht die Gefahr, die von Leitlinien ausgehen kann: "Mein salopper Spruch lautet immer: Es ist nicht erlaubt, mit dem Denken aufzuhören, wenn man Leitlinien anwendet." Jede Therapie müsse auf den einzelnen Patienten abgestimmt sein.

Dabei wies die Medizinerin auf ein weiteres Problem hin: Längst nicht alle Leitlinien basierten auf unabhängig zusammengestellten Informationen.

So habe eine Umfrage des Ärztlichen Zentrums für Qualität in der Medizin unter 66 Leitlinien-Autoren ergeben, dass ein gutes Fünftel der Autoren angab, dass verschiedenste Stellen versucht hätten, direkt auf sie Einfluss zu nehmen (Weinbrenner et al. 2011, Interessengeleitete Leitlinien-Empfehlungen, Projektbericht, Bundesärztekammer).

Als Gründe für Interessenkonflikte nannten Autoren aber auch die eigene Gutachtertätigkeit, eine Mitgliedschaft in themenrelevanten Organisationen oder persönliche Interessen.

Genau solche unvollständigen oder interessengesteuerten Leitlinien würden wiederum die Gefahr bergen, dass der anwendende Arzt eben auf Basis nicht vollständiger Informationen eine Therapie-Entscheidung treffe.

"Das führt faktisch ebenfalls zu einer Einbuße an ärztlicher Entscheidungsfreiheit", erklärte Püschel.

Gute Instrumente zur Entscheidungsfindung

Kein Wunder also, dass die Leitlinien bei den Ärzten nach wie vor auch auf Misstrauen stoßen. So war der drittwichtigste Grund für Berliner Hausärzte, Leitlinien nicht zu nutzen, der, dass sie an der Unabhängigkeit der Autoren zweifelten (siehe Grafik).

Und diesen Grund hätten immerhin über 50 Prozent der befragten Ärzte angegeben, sagte Weinbrenner.

Der wichtigste Grund war allerdings, dass die Leitlinien gar nicht bekannt waren (61,9 Prozent) oder die Ärzte Schwierigkeiten hatten, gute Leitlinien zu finden (54,2 Prozent).

Auch wenn die Befragung aus dem Jahr 2003 stammt und in die Stichprobe nur rund 185 Ärzte kamen, eines wird deutlich: Bei der Gestaltung der Leitlinien braucht es mehr Transparenz.

"Leitlinien sind meiner Meinung nach ein gutes Instrument der Entscheidungsfindung", sagte Weinbrenner, "aber es müssen neutrale, qualitätsgeprüfte Infos herangezogen werden".

Können Leitlinien multimorbide Patienten nicht richtig abbilden, gelten sie laut Püschel übrigens auch nicht "als medizinischer Standard". "Ich kann nicht einfach drei Leitlinien zusammenpacken", mahnte die Juristin.

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