Ärzte-Ehepaar Joraschky

Neustart mit 76 Jahren

Dr. Claudia und Dr. Werner Joraschky sind mit Leib und Seele Hausärzte. Seit 1979 haben sie ihre gemeinsame Praxis im Münsterland. Sie genießen die enge Bindung zu ihren Patienten, doch die Suche nach einem Nachfolger läuft bereits - jedoch diesmal ohne Zeitdruck.

Von Katrin Berkenkopf Veröffentlicht:
Dr. Cordula und Dr. Werner Joraschky beim gemeinsamen Hausbesuch des 100-jährigen Georg Wibbelt (l.).

Dr. Cordula und Dr. Werner Joraschky beim gemeinsamen Hausbesuch des 100-jährigen Georg Wibbelt (l.).

© Katrin Berkenkopf

WADERSLOH. Aus dem Sprechzimmer fällt der Blick auf den Garten mit den hohen Bäumen, dahinter ragt die Kirchturmspitze empor.

Dr. Werner Joraschky tritt herein, er entschuldigt erst einmal seine Frau: "Sie macht gerade noch eine Ohrspülung. Die meisten Kollegen machen das ja nicht mehr, weil es dafür keine Gebührenposition gibt."

Dann kommt sie, hat aber wenig Zeit, denn der nächste Patient wartet schon. Der kleine Leonardo wird mit seiner Mutter in das Kindersprechzimmer nebenan geführt.

"Die Mutter haben wir doch auch schon in der Schublade gehabt", sagt Elisabeth Voss. Die Medizinische Fachangestellte begleitet Dr. Cordula Joraschky seit 38 Jahren.

Mit der Schublade ist eine herausziehbare Lade im Kindersprechzimmer gemeint, in der Babys gewogen und gemessen werden. Viele, die früher hier untersucht wurden, kommen heute mit ihren eigenen Kindern in die Praxis.

Auch Werner Joraschky muss sich jetzt wieder um seine Patienten kümmern, über 60 sind es an diesem Morgen, der Herbst hat die erste Erkältungswelle mit sich gebracht.

Der Berufswunsch stand früh fest

Dr. Cordula Joraschky mit dem kleinen Leonardo und dessen Mutter.

Dr. Cordula Joraschky mit dem kleinen Leonardo und dessen Mutter.

© Berkenkopf

Mit Leib und Seele Hausarzt - auf die beiden Mediziner aus der kleinen Ortschaft Wadersloh im südlichen Münsterland trifft diese Aussage voll und ganz zu.

Cordula Joraschky fuhr schon als Kind mit ihrem Vater, dem Landarzt, zu den Menschen auf die Kotten, wie die Bauernhöfe in dieser Gegend von Westfalen heißen.

Ihr Berufswunsch stand früh fest. Als ihr Vater 1972 starb, arbeitete sie allerdings gerade als junge Medizinerin in Kiel, war verheiratet und hatte zwei kleine Söhne. Nur kurz musste sie überlegen, dann entschied sie: "Gut, ich probiere es."

Sie fühlte sich dem Erbe ihres Vaters und den Patienten verpflichtet. Wenn auch heutzutage nicht mehr die ganze Familie von der Oma bis zum Enkel die Praxis aufsucht, ist die Bindung an die Patienten doch immer noch eng. "Das ist ja völlig anders als in der Stadt."

Zunächst war sie allein. Ihr Mann, ursprünglich promovierter Pharmakologe, der dann noch Medizin studierte, blieb vorerst in Hannover.

Typisch Dorf: Die Kinderbetreuung regelte sie über den Dechant. Der Kirchenmann empfahl ihr eine Frau, die sich bis heute um den Haushalt der Joraschkys kümmert. Sie half, zunächst die beiden Kinder und später die Enkel mit großzuziehen.

Patienten erwarten Erreichbarkeit

Sich während der Woche allein um die Praxis mit bis zu 1400 Patienten und ihre Kinder zu kümmern, war nicht einfach. Besonders in einem Umfeld, in dem von den Patienten ständige Erreichbarkeit ihrer Hausärztin erwartet wird.

Wann ein Landwirt Zeit für den Arztbesuch hat, richtet sich schließlich nicht nach der Sprechstunde, sondern danach, ob die Tiere und die Arbeit auf dem Hof ihm eine kurze Verschnaufpause lassen.

Irgendwann hängte Cordula Joraschky im Wartezimmer ein Plakat mit dem Foto ihrer beiden Söhne auf, um klarzumachen, dass diese Kinder ab und zu ihre Mutter brauchten. "Man muss Grenzen setzen", das sagt auch ihr Mann. So springt mittlerweile abends beim Telefon der Anrufbeantworter an, die Familie kann die beiden dann über Handy erreichen.

1979 baute das Ehepaar ein neues Haus im Ortskern von Wadersloh, vorne die Praxisräume, hinten der Wohnbereich. Seitdem führen sie eine Gemeinschaftspraxis.

Werner Joraschky gab dafür seine gut dotierte Stelle an der Klinik auf. Manch schlaflose Nacht bereitete ihm der Gedanke, wie er die Schulden für das neue Haus abbezahlen sollte. "Soviel verdient man als Hausarzt ja nicht. Vieles von dem, was wir machen, wird nicht bezahlt."

Doch trotz des finanziellen Abstiegs stand er immer voll hinter dem Wechsel in die Praxis: "Ich habe es nie bereut."

Bestätigung für seine Entscheidung findet er immer wieder, etwa wenn er Patienten wie den 100-jährigen Georg Wibbelt besucht. Natürlich zu Hause, auf seinem Kotten, wo er mit seiner Tochter lebt.

"Schau mal, was aus den Küken geworden ist", sagt Cordula Joraschky bei der Einfahrt auf den Hof zu ihrem Mann. Sie kennen auch die Tiere ihrer Patienten.Heute überbringen sie nur die neuesten Blutwerte: alles in Ordnung.

Das Besondere: Nähe zu Patienten

Diese Nähe zu den Patienten, gerade zu den älteren, ist das Besondere an ihrer Arbeit. "Als Hausarzt entwickelt man eine Spürnase", sagt Werner Joraschky und erzählt von der Seniorin mit Bluthochdruck, die zu Hause plötzlich bewusstlos wurde.

Die Familie rief ihn - und er erkannte schnell, dass sie einfach zu lang unter der heißen Trockenhaube gesessen hatte. Die alte Frau konnte sich zu Hause im Bett erholen. "Ein anderer hätte sie vermutlich sofort ins Krankenhaus eingewiesen."

Von Schicksalsschlägen blieben die Joraschkys nicht verschont. "Bis zu meinem 55. Lebensjahr bin ich nie krank gewesen", sagt Cordula Joraschky. Doch dann erkrankte sie an einem Tumor im Unterleib. Operation reihte sich an Operation.

In ihrem weißen Arztkittel trägt sie den Zettel, auf dem sie alle tabellarisch mit Zeit und Ort vermerkt sind. 1999 schließlich wurde ihr eine Leber transplantiert.

Die lange Zeit im Krankenhaus hat ihre Perspektive auf das Arzt-Patienten-Verhältnis sehr verändert, erklärt sie. "Was Ihnen fehlt, ist ein Tag hier im Bett als Patient", erklärte sie den Klinikärzten. Seit dieser Zeit muss sie beruflich kürzer treten.

Ende 2005 mussten die beiden Ärzte schließlich ihre Praxis ganz aufgeben - allerdings nicht aus Gesundheitsgründen, sondern wegen der damals noch geltenden Altersgrenze von 68 Jahren.

Dabei ist der Ärztemangel in der Region absehbar: Im Ortsteil Wadersloh gibt es derzeit noch zehn Ärzte, doch sechs sind bereits über 60 Jahre alt.

Schwierige Nachfolgersuche

Wenn Cordula Joraschky allein unterwegs ist, fährt sie seit 40 Jahren mit dem gleichen Wagen - einem silberfarbenen Opel GT.

Wenn Cordula Joraschky allein unterwegs ist, fährt sie seit 40 Jahren mit dem gleichen Wagen - einem silberfarbenen Opel GT.

© Berkenkopf

Eineinhalb Jahre hatten sie sich von Quartal zu Quartal gehangelt, auf der Suche nach einem Nachfolger. Am letzten Tag jedes Quartals mussten sie bei der Kassenärztlichen Vereinigung nachfragen, ob sie am nächsten Tag die Praxis wieder öffnen dürften.

Eine schlimme Zeit für die beiden Ärzte, die doch gar nicht aufhören wollten. "Sie kriegen niemanden aufs Land. Die fragen erst mal, wo man denn hier shoppen kann", erinnert sich Cordula Joraschky.

Seit dem frühen Tod eines Sohnes sorgen sie finanziell für dessen Familie mit und wollten schon deshalb weiter Geld verdienen.

Dann fand sich doch noch jemand, der die Praxis mietete. Das Ehepaar nutzte die zwangsweise erworbene Freizeit: Sie machten sich fit im Umgang mit EDV und setzten sich für die Wahl eines jungen, parteilosen Bürgermeisters ein.

Solch ein Engagement im Ort wäre vorher undenkbar gewesen, als praktizierender Arzt durfte man sich nicht zu parteiisch zeigen. Schließlich hatten es ihnen einige Dorfbewohner sogar übel genommen, dass sie für ihr Hobby Singen den evangelischen Chor in der nächsten Stadt ausgesucht hatten, und nicht den katholischen vor Ort.

Doch 2012 entschloss sich der Nachfolger zur Rückkehr an ein Krankenhaus. Wieder standen Joraschkys vor der Frage, was aus ihrer Praxis wird. "Wir haben beratschlagt, und dann kam mein Mann mit der Idee", berichtet die Ärztin.

Das Ehepaar übernahm am 1. September 2012 wieder selbst das Ruder. Da die Altersgrenze mittlerweile aufgehoben wurde, war dies kein Problem. Dass sie für die erneute Zulassung 1400 Euro zahlen mussten, können die beiden allerdings bis heute nicht begreifen.

Sie kämpfen noch immer dagegen und haben sich sogar an das Bundesgesundheitsministerium gewandt.

Jetzt Suche ohne Zeitdruck

Das zweite Leben in der Praxis lassen Joraschkys etwas ruhiger angehen. Mittags gönnen sie sich ein Schläfchen, doch Hausbesuche und die Sprechstunde am späten Nachmittag stehen noch immer auf dem Programm.

Pro Quartal versorgen sie mit ihren drei Teilzeit-Angestellten zwischen 700 und 825 Patienten.

Mittlerweile sind beide 77 Jahre alt und es ist ihnen klar, dass sie die Arbeit trotz aller Liebe nicht mehr lange so weiterführen können. "Wir sind ja Realisten", sagt Werner Joraschky. Sie sind also wieder auf der Suche nach einem Nachfolger, endgültig.

Diesmal aber geschieht es ohne Zeitdruck. Und mit dem Gefühl des freiwilligen Abschieds und nicht einer Quasi-Enteignung.

Hintergrund: Zwangsrente für Ärzte - das war mal Realität

Dass Vertragsärzte mit über 70 Jahren noch ihre Praxis führen, war nicht immmer so. Von 1999 bis zum Oktober 2008 galt nämlich der gesetzlich verordnete Zwangsruhestand ab 68 Jahren. Dieser sorgte in der Ärzteschaft nicht nur für Unverständnis. Der ein oder andere zog wegen der Zwangsverrentung auch vor Gericht. Der bekannteste Fall ist wohl der des Internisten Dr. Günter Ettrich, der sogar bis vor den Europäischen Gerichtshof (EuGH) zog, um eine Entschädigung für seinen Zwangsruhestand zu erhalten.

Doch wie kam es überhaupt zu dem gesetzlich verordneten Zwangsruhestand für Vertragsärzte? Die Grundlage dafür wurde mit dem Gesundheitsstrukturgesetz 1993 gelegt. Der Gesetzgeber rechtfertigte diesen Schritt damals mit der Überversorgung und der damit einhergehenden Ausgabensteigerung im Gesundheitswesen.

Führte als Argument aber ebenso an, dass die so auf 68 Jahre festgelegte Altersgrenze für die Vertragsarzttätigkeit der nachrückenden Generation den Zugang zur Niederlassung erleichtern solle. Die Überversorgung allein durch Zulassungsbeschränkungen abzubauen, gehe nämlich einseitig zulasten junger Ärzte, hieß es damals.

In Kraft trat die Zwangsverrentung allerdings erst 1999 - mit Paragraf 95 Absatz 7 Satz 3 Sozialgesetzbuch V.

Da aus dem Problem der Überversorgung allerdings gar nicht so viel später eines der Unterversorgung - insbesondere in ländlichen Regionen - wurde, ruderte der Gesetzgeber nicht einmal zehn Jahre später zurück. Zum Oktober 2008 wurde die Altersgrenze wieder aufgehoben.

Bis dahin traf die Zwangsverrentung über 2500 Vertragsärzte. Klagen von Ärzten vor Sozialgerichten und Verfassungsbeschwerden endeten für Ärzte in der Zwischenzeit allerdings ohne Erfolg.

Das Bundesverfassungsgericht argumentierte in seiner als "Demenz-Beschluss" bekannten Entscheidung von 1998 unter anderem, dass bei über 68-Jährigen Gefahr für die Allgemeinheit bestehe, weil körperliche und geistige Leistungsfähigkeit in diesem Alter nicht mehr als sicher zu unterstellen seien.

Das Interessante dabei: Seit Aufhebung des Zwangsruhestands ist davon nicht mehr die Rede. Und für die privatärztliche Tätigkeit hatten die Verfassungsrichter diese Gefahr ohnehin nicht gesehen.

In ihrem Beschluss hatten sie ausdrücklich darauf hingewiesen, dass Ärzte nach Vollendung des 68. Lebensjahres mittels Privatpraxis weiterhin Einkünfte erzielen könnten, "wenn auch nur in begrenztem Umfang".

Selbst der bekannteste Streitfall, nämlich der von Ettrich blieb bis zur höchsten Instanz - dem Europäischen Gerichtshof - ohne Erfolg.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte lehnte Anfang dieses Jahres die Beschwerde des ehemaligen Vertragsarztes als unzulässig ab.

In 2010 hatte der Europäische Gerichtshof- allerdings in einem anderen Fall - festgestellt, dass die frühere Altersgrenze für Ärzte wohl rechtmäßig war. (eb)

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