Vom Diabetes-DMP zum Full Capitation Modell

Seit 2002 gibt es in Amberg und Umland das Ärztenetz "Unternehmen Gesundheit Oberpfalz Mitte", kurz UGOM. Gestartet wurde mit der gemeinsamen elektronischen Dokumentation zum DMP Diabetes. Jetzt bauen dort die Ärzte ein System auf, bei dem die Krankenkassen Jahrespauschalen für jeden Patienten bezahlen. Das Ärztenetz übernimmt für diese Art von Budget die Gesamtverantwortung.

Rebekka HöhlVon Rebekka Höhl Veröffentlicht:
Viele Ärzte mit gemeinsamen Zielen - ein Gruppenbild mit UGOM-Mitgliedern.

Viele Ärzte mit gemeinsamen Zielen - ein Gruppenbild mit UGOM-Mitgliedern.

© Foto: UGOM

Es war der Ärzteprotest 1999 in Nürnberg, aus dem die Grundidee für das Ärztenetz entstand. "Während des Protestmarschs hatte man einmal Zeit, miteinander zu reden", sagt der Amberger Allgemeinarzt Dr. Herrmann Dandorfer, der sozusagen der Gründungsvater des Ärztenetzes "Unternehmen Gesundheit Oberpfalz Mitte" (UGOM) ist. Zunächst startete Dandorfer mit einigen Kollegen als Verein. Dabei war die eigene Antriebskraft, aus der Fremdbestimmung herauszukommen.

In der Rechtsform des eingetragenen Vereins funktionierte die Vernetzung mit den Kollegen jedoch nicht. "Neben dem Haftungsrisiko gibt es vor allem ein Problem: So ein Verein ist relativ unverbindlich", erklärt Dandorfer. Dadurch waren viele Kollegen dabei, die zwar ihre Beiträge zahlten, aber nicht wirklich bei der Umsetzung mitzogen. Und als Verein könne man nicht wirtschaftlich tätig werden, so Dandorfer.

Ärzte haben direkten Einfluss auf alle Aktionen

2002 wurde das UGOM daher als GmbH gegründet. Kurze Zeit später erfolgte dann die Umfirmierung in eine GmbH & Co. KG. Der Vorteil für die Ärzte: "Sie sind nun Stakeholder, also Anspruchsberechtigte des Unternehmens, und Shareholder, das heißt Anteilseigner, in einem", berichtet UGOM-Geschäftsführer Dr. Thomas M. Bahr. Dadurch haben die Ärzte direkten Einfluss auf alle Aktionen des Ärztenetzes, sie spüren umgekehrt aber auch immer die Auswirkungen der einzelnen Aktionen.

Das Ärztenetz startete 2002 erst einmal mit nur einem Projekt: dem elektronischen Dokumentieren und Weiterleiten der Daten aus dem Disease-Management-Programm Diabetes. Anhand dieses ersten Projekts erkannten die Ärzte schnell, dass sie sich, um erfolgreich zu kooperieren, auch EDV-technisch vernetzen müssen. Eigentlich per Zufall landete das Ärztenetz bei dem Anbieter Pie Data Elektronik, der später von MCS übernommen wurde. Pie Data sei damals der einzige Anbieter gewesen, der genau die EDV-Lösung geboten habe, die das Ärztenetz benötigte, erinnert sich Dandorfer. Entscheidend für die Mediziner war, dass die Dokumenation elektronisch schneller ablief und Fehler wie etwa falsch eingetragene Positionen sofort von der EDV erkannt wurden.

Doch mit ihrem Vernetzungs-Projekt machten sich die Ärzte nicht nur Freunde. Damals sei das Denken der Kassenärztlichen Vereinigung in Sachen DMP noch anders gewesen, so Dandorfer. Man habe regelrecht Prügel eingesteckt. Gerade auch deshalb habe das Ärztenetz weiterkommen wollen. Dandorfer: "Wir haben bei Herrn Platzer von der AOK nachgefragt, ob wir nicht einen 140er-Vertrag haben könnten." Und tatsächlich, noch in der Sitzung habe der Vorstandsvorsitzende der AOK Bayern, Dr. Helmut Platzer, grünes Licht für einen Vertrag der Integrierten Versorgung nach Paragraf 140a SGB V gegeben. Zum 1. Januar 2004 konnte das Ärztenetz mit dem IV-Vertrag und der einprozentigen Strukturförderung starten.

Der IV-Vertrag, mit dem eine sektorenübergreifende Versorgung der Patienten durch nahezu alle Fachrichtungen und zwei Klinikträger gewährleistet wird, ist sehr erfolgreich angelaufen. Bereits im ersten halben Jahr seit der Gründung hatten sich 3000 Patienten im Landkreis Amberg-Sulzbach in das Arztnetz eingetragen. Mittlerweile zählt das UGOM rund 12 000 eingeschriebene Patienten. Wobei sich die Patienten ein festes Team an betreuenden Ärzten aussuchen können. Gerade durch die EDV-Vernetzung sind Behandlungsdaten für Mitbehandler schnell zugänglich.

Da nun aber die Förderung wegfällt, war es für UGOM höchste Zeit, ein neues Projekt in Angriff zu nehmen. Die Ärzte wagen sich gleich an etwas Größeres heran: Geplant ist, ab 2009 die volle Budgetverantwortung für die eingeschriebenen AOK-Versicherten nach einem Full Capitation Modell zu übernehmen. Für das Netz hieße das, dass die AOK Bayern für jeden ins Netz eingeschriebenen Patienten eine Jahrespauschale zur Verfügung stellt. Das Ärztenetz selbst würde dann die Gesamtverantwortung für die medizinische Versorgung der Versicherten, aber auch für die Verteilung des Budgets übernehmen.

Eine Aufgabe, die man der AOK Bayern selbst vorgeschlagen habe. "Es war sogar von Anfang an das langfristige Ziel unseres Arztnetzes", erklärt Dandorfer. Denn von Beginn an habe man von der bisherigen Struktur, in der nur versucht werde, den Mangel zu deckeln, weg gewollt.

Nun besteht die Kunst darin, alle Netzärzte von Anfang an mit ins Boot zu holen. UGOM möchte das über "Kompetenzteams" schaffen, die sich jeweils um die Erarbeitung bestimmter Themen kümmern.

Mit der Full Capitation wird auch die Prävention lukrativ

Dandorfer schwebt vor, die drei Sektoren Hausarzt, Facharzt und Krankenhaus, die jetzt schon gut zusammenarbeiten, noch enger zusammenzubringen - und zwar auch im wirtschaftlichen Denken. Funktionieren könnte das Capitation Modell seiner Meinung nach mit einer Kopfpauschale pro Patient im hausärztlichen Bereich und einer Vollpauschale bei den Fachärzten. Damit wäre es laut Dandorfer für den Hausarzt zum ersten Mal richtig lukrativ, sich um die Prävention zu kümmern.

Die AOK Bayern hat dem Netz die Full Capitation zunächst einmal als Testlauf zugesagt. Dandorfer ist jedoch sehr zuversichtlich, das eigene Vergütungssystem so auf die Beine zu stellen, dass es weiterlaufen kann. "Wir bauen hier einen Prototypen, der aber durchaus irgendwann in Serienproduktion gehen könnte."

TIPPS UND TRENDS ZUR VERNETZUNG

Ohne "Treiber" kommt kein Netz ins Laufen

Wenn Niedergelassene ein erfolgreiches Ärztenetz aufbauen wollen, sollten sie zunächst die nötigen Voraussetzungen für die Kooperation schaffen. UGOM-Netzarzt Dr. Hermann Dandorfer erklärt, worauf es ankommt:

  • Diskussionen sind wichtig für Ärztenetze. Doch, wer nicht ein paar echte "Treiber" in seinem Gründungsteam hat, kommt nicht voran, so Dandorfers Erfahrung. Es brauche Kollegen, die mit Begeisterung und Unternehmergeist die anderen Netzärzte mitzögen. Je mehr Ärzte sich zusammenschließen wollen, um so wichtiger wird dies.
  • Doch diese "Treiber" können natürlich nicht allein das komplette Netz planen. Jeder Arzt, der sich einem Netz anschließen wolle, müsse auch wissen, dass er viel Zeit investieren muss, so Dandorfer weiter. Der Vorteil, wenn alle Ärzte von Anfang an selbst bei der Gestaltung des Arztnetzes mitwirken, ist zudem, dass auch Entscheidungen, die nicht für alle positiv sind oder auch finanzielle Investitionen erfordern, besser aufgenommen werden.
  • Wer seine Prozesse und damit die Patientenversorgung verbessern will, muss laut Dandorfer aber auch aufgeschlossen für die elektronische Kommunikation untereinander sein. Ohne eine gemeinsame Software sei das nicht möglich, berichtet Dandorfer. Denn sie bildet bisher die Grundlage dafür, dass die Ärzte im Netz schnell und umfassend auf die jeweiligen Patientendaten zugreifen können.
  • Netze brauchen Software aber noch aus einem anderen Grund: "Ein Arztnetz muss Herr seiner Daten sein und die Chance haben, Evaluationen zu machen", sagt der Allgemeinarzt. Schließlich lässt sich so der Erfolg des Arztnetzes abbilden und die Versorgung der Patienten weiter verbessern. (reh)

Neue Kooperationsformen im Überblick

Immer häufiger schließen sich Ärzte zusammen, um Partner für die Kassen zu werden oder Geräte gemeinsam zu nutzen. Einige Beispiele:

  • Gesundheitsnetz Wesel: Im Oktober ging das IV-Modell an den Start. Partner sind etwa 30 Haus- und Fachärzte, zwei Krankenhäuser, die AOK Rheinland Hamburg und die Consult-Tochter der KV Nordrhein.

www.gesundheitsnetz-wesel.de

  • Medizin und Mehr (MuM): 1997 gründeten 60 Ärzte MuM als Netz. Heute ist es ein Gesundheitsunternehmen. 2005 schlossen die Ärzte einen großen IV-Vertrag mit Betriebs- und Innungskassen ab.

www.mum-buende.de

  • Gesundheitsnetz Osthessen: Etwa 80 Prozent der Haus- und Fachärzte aus Stadt und Landkreis Fulda sind an dem Ärztenetz beteiligt. Mit der AOK wurde ein Vertrag zur Versorgung von Patienten mit chronischer Herzschwäche geschlossen.

www.gesundheitsnetzosthessen.de

  • Aerztliches Gesundheitszentrum in Lampertheim: 19 Ärzten haben sich zusammengeschlossen und bieten individuelle Gesundheitsleistungen (IGeL) an.

www.agila-lampertheim.de

Vernetzung ist bei Ärzten ein Renner

Ein ausführliches Stimmungsbild unter den niedergelassenen Haus- und Fachärzten in Deutschland zum Thema Vernetzung und neue Versorgungsformen gab im Herbst des Jahres das große Praxisquorum. Gemeinsame mit PVS/Die Privatärztlichen VerrechnungsStellen hat die "Ärzte Zeitung" Fragen gestellt, wie sich die Niedergelassenen zukünftig ein vernetztes Arbeiten in Deutschland vorstellen. 3500 Ärzte haben geantwortet.

Die Ergebnisse: Niedergelassene setzen vermehrt auf neue Versorgungsformen. Ohne Vernetzung geht in Zukunft nichts, das glauben 80 Prozent der niedergelassenen Ärzte. Dabei bezeichnet jeder Zweite sie als echte Chance. Für fast 30 Prozent ist sie eine Notwendigkeit ohne Alternative. Wenn sich Niedergelassene vernetzen, verbinden sie das meist mit ganz konkreten Anliegen. An erster Stelle stehen bei der Kooperation immer die Patienten, und zwar für über 70 Prozent der Ärzte.

Die "Ärzte Zeitung" hat die Ergebnisse des Netz-Quorums in einer neunteiligen Serie dokumentiert. Die einzelnen Beiträge stehen registrierten Nutzern kostenlos zur Verfügung »

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