Gastbeitrag

AMNOG schützt Ärzte vor Arznei-Regress

Ausgerechnet das AMNOG könnte Ärzten mehr Schutz in Sachen Arznei-Regresse bieten. In ihm steckt nämlich eine bislang kaum beachtete Rechtsgrundlage für bundesweit geltende Praxisbesonderheiten.

Von Christian Dierks und Susanne Henck Veröffentlicht:
Ärzte, die sich bei Arznei-Innovationen an die Verordnungsanforderungen der Nutzenbewertung halten, sollten auf der sicheren Seite sein.

Ärzte, die sich bei Arznei-Innovationen an die Verordnungsanforderungen der Nutzenbewertung halten, sollten auf der sicheren Seite sein.

© E. Umdorf / imago

BERLIN. Mit Inkrafttreten des Arzneimittelmarktneuordnungsgesetzes - kurz AMNOG - im Januar 2011 wurde im SGB V auch eine Rechtsgrundlage für bundesweit geltende Praxisbesonderheiten geschaffen.

Doch diese Regelung ist bislang weitgehend unbeachtet geblieben. Dabei liefert sie Ärzten eine gute Argumentationsgrundlage in der Wirtschaftlichkeitsprüfung.

Bisher konnte sich der Arzt entweder mit Praxisbesonderheiten verteidigen, die in den Richtgrößenvereinbarungen zwischen den KVen und den Krankenkassen beziehungsweise deren Verbänden auf KV-Ebene vereinbart werden ("Anlagen-Praxisbesonderheiten").

Oder er konnte, war sein Fall davon nicht erfasst, speziell für seine Praxis die Umstände darlegen, weshalb er seine Richtgröße nicht einhalten konnte - also arztindividuelle Praxisbesonderheiten geltend machen.

Diese beiden Möglichkeiten haben Ärzte immer noch. Nunmehr kann aber allein die Verordnung spezieller Arzneimittel eine Praxisbesonderheit darstellen, und zwar solcher Arzneimittel, die eine Nutzenbewertung beim Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA) durchlaufen haben.

Ärzte profitieren von früher Nutzenbewertung

Die neuen bundesweit geltenden Praxisbesonderheiten sind allein auf ein spezielles Arzneimittel bezogen. Sie entstehen als "Nebenprodukt" beziehungsweise Annex zu einem Erstattungsbetrag für Arzneimittel.

Denn, wie mehrfach berichtet, hat das AMNOG für Arzneimittel mit neuen Wirkstoffen die frühe Nutzenbewertung eingeführt. Wird in diesem Verfahren ein Zusatznutzen des Arzneimittels festgestellt, schließen sich Verhandlungen über den Erstattungsbetrag zwischen dem pharmazeutischen Unternehmer und dem GKV-Spitzenverband an.

Dieselben Verhandlungspartner dürfen auch vereinbaren, ob und unter welchen Umständen die Verordnung der Arznei eine Praxisbesonderheit darstellt.

In diesen Verordnungsanforderungen schlagen sich die Befunde der Nutzenbewertung für das Arzneimittel nieder, etwa dass ein Zusatznutzen nur für eine spezielle Patientengruppe nachgewiesen werden konnte oder nur bei bestimmter Co-Morbidität. Die Verordnung des Arzneimittels ist dann zum Beispiel nur für diese Patientengruppe oder bei Co-Morbidität eine Praxisbesonderheit.

"Annex"-Praxisbesonderheit

Die "Annex"-Praxisbesonderheiten gelten ab der Unterzeichnung der Vereinbarung des Pharma-Unternehmens mit dem GKV-Spitzenverband über den Erstattungsbetrag bundesweit einheitlich und unmittelbar verbindlich gegenüber Dritten.

Insbesondere haben die Prüfgremien der Wirtschaftlichkeitsprüfung sie von Amts wegen zu beachten. Eines separaten Umsetzungsaktes, etwa durch Aufnahme in die regionalen Anlagen der Prüfvereinbarungen, bedürfen diese "Annex"-Praxisbesonderheiten nicht.

Der Bundesgesetzgeber hat einen weiten Gestaltungsspielraum, wem er welche Kompetenzen zur Regelung der Kontrolle des Wirtschaftlichkeitsgebotes durch die Richtgrößenprüfung zuordnet.

Er hat den Landesvertragspartnern zwar die Kompetenz übertragen, "die Maßstäbe zur Prüfung der Berücksichtigung von Praxisbesonderheiten" in der Richtgrößenprüfung zu vereinbaren.

Die abschließende oder ausschließliche Definitionshoheit für Praxisbesonderheiten hat er ihnen damit aber nicht eingeräumt. Hierfür spricht schon, dass neben den Anlagen-Praxisbesonderheiten stets auch in den Vereinbarungen nicht erwähnte, arztindividuelle Praxisbesonderheiten zu berücksichtigen sind.

Aber es gibt noch mehr Gründe, die dafür sprechen, dass die "Annex"-Praxisbesonderheit von den Prüfgremien von Amts wegen anzuerkennen ist.

Hat der Vertragsarzt seine Richtgröße aufgrund überdurchschnittlicher Verordnung des bewussten Arzneimittels überschritten, erschöpft sich die Aufgabe der Prüfgremien nach dem ausdrücklichen Wortlaut des Paragrafen 130b Absatz 2 Satz 1 2. Hs. SGB V in der Prüfung, ob "der Arzt bei der Verordnung im Einzelfall die dafür vereinbarten Anforderungen an die Verordnung eingehalten hat".

Verordnungsbedingungen einhalten

Dabei kennt das Gebot der Wirtschaftlichkeit das Untergebot der Zweckmäßigkeit des Arzneimittels, die Ziele des SGB V (Heilung etc.) zu erreichen, und das Untergebot der Wirtschaftlichkeit im engeren Sinne als angemessenes Preis-Leistungsverhältnis.

Die kostenmäßige Wirtschaftlichkeit der Arznei wird durch den Erstattungsbetrag gewährleistet, die Zweckmäßigkeit des Arzneimittels wird durch die Nutzenbewertung geprüft und schlägt sich in den Verordnungsanforderungen nieder.

Hat der Arzt diese eingehalten, hat er also nicht mehr zu befürchten, unwirtschaftlich gehandelt zu haben. Wenn der Vertragsarzt diese Verordnungsbedingungen nicht eingehalten hat, stellt sich allerdings die Frage, ob dann nicht zugleich die Unwirtschaftlichkeit der Verordnung feststeht. Hier geht die Richtgrößenprüfung letztlich in eine Einzelfallprüfung über.

Zuvorderst drängt sich jedoch die Frage auf, wie Vertragsarzt oder Prüfgremium überhaupt Kenntnis davon erlangen sollen, für welche Arzneien die Vertragspartner des Erstattungsbetrages welche Verordnungsbedingungen als Praxisbesonderheit geregelt haben.

Da sie nicht Teil der regionalen Anlagen-Praxisbesonderheiten sind, werden die bundesweiten "Annex"-Praxisbesonderheiten nicht in den Richtgrößenvereinbarungen der KVen veröffentlicht.

Es fehlt eine einheitliche Informationsplattform

Der Gesetzgeber hat auch keine Übersichtsliste vorgesehen, in denen alle vereinbarten "Annex"-Praxisbesonderheiten zusammengefasst und öffentlich zugänglich gemacht werden, wie er dies anderweitig mit der Übersicht über Festbeträge des GKV-Spitzenverbandes in § 35 Abs. 8 SGB V und die Übersicht über ausgeschlossene Arzneimittel des GBA in § 93 SGB V getan hat.

Zwar können sich Ärzte zu den Verordnungsbedingungen für das nutzenbewertete Arzneimittel durch einen Blick in den Bundesanzeiger informieren: Der GBA fasst nach Paragraf 7 Abs. 4 Arzneimittelnutzenverordnung nach der Nutzenbewertung einen Beschluss, der "die wesentlichen Ergebnisse der Nutzenbewertung" enthält und unter anderem als "Grundlage [..] für die Bestimmung von Anforderungen an die Zweckmäßigkeit, Qualität und Wirtschaftlichkeit der Verordnung sowie für die Anerkennung als Praxisbesonderheit" dienen soll, der im Bundesanzeiger zu veröffentlichen ist.

Und der Arzt ist auf der sicheren Seite, wenn er die im GBA-Beschluss formulierten Anforderungen einhält. Damit ist für den Arzt aber noch nicht ersichtlich, ob diese Arzneimittelverordnung als von Amts wegen anzuerkennende Praxisbesonderheit vereinbart worden ist oder ob er sich selbst unter Berufung auf den GBA-Nutzenbeschluss und Einhaltung der dort erwähnten Verordnungsanforderungen verteidigen muss.

Hier besteht also Regelungsbedarf hinsichtlich einer Informationsplattform für Vertragsärzte wie Prüfgremien.Aus Gründen der Rechtsklarheit wäre eine eindeutige gesetzliche Regelung zu begrüßen.

Bis dahin sollte die Information der Vertragsärzte und Prüfgremien durch den GKV-Spitzenverband in der Vereinbarung zwischen Unternehmer und GKV-Spitzenverband nach Paragraf 130b Abs. 2 S. 1 SGB V geregelt werden.

Professor Christian Dierks ist Facharzt für Allgemeinmediziner, Fachanwalt für Sozialrecht und Mitgründer der Kanzlei Dierks & Bohle in Berlin. Rechtsanwältin Susanne Henck ist wiss. Mitarbeiterin der Kanzlei.

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