Debatte um Klinikqualität

"Was wir derzeit machen, ist brandgefährlich"

Wird in Deutschland wirklich zu viel operiert und wenn ja, warum? Der Vorsitzende des Berufsverbandes der Chirurgen, Professor Hans-Peter Bruch, verfolgt die Diskussion mit Unbehagen. Im Interview erklärt er, in welch fatale Situation die Kliniken geraten sind.

Christiane BadenbergVon Christiane Badenberg Veröffentlicht:
Mise en Place im OP: Wirklich immer zu viel des "Guten"?

Mise en Place im OP: Wirklich immer zu viel des "Guten"?

© Mathias Ernert

Ärzte Zeitung: Herr Professor Bruch, Ausgangspunkt für unser Gespräch sind die Schlagzeilen der vergangenen Monate. Zu viele Behandlungsfehler, zu schlechte Hygiene in den Kliniken, überflüssige Operationen. Was stimmt in den deutschen Kliniken nicht?

Prof. Hans-Peter Bruch

Präsident des Berufsverbandes der Chirurgen seit 2010

Jahrgang 1947

Mitglied der Leopoldina Nationale Akademie der Wissenschaften seit 1999

langjähriger Direktor der Klinik für Chirurgie der Universität Lübeck

Professor Hans-Peter Bruch: Es gibt bei all diesen Verlautbarungen immer ein Quentchen Wahrheit, aber auch ganz viel Sensationsmache oder Beeinflussung der öffentlichen Meinung im Sinne eines bestimmten großen Players auf dem Medizinmarkt. Was aber auf keinen Fall in dieser Situation hilft, ist eine Schuldzuweisungskultur auf der Mikroebene wie beim AOK Krankenhausreport.

Richtig ist: Mit Einführung der DRG und dadurch, dass die Politik den Ökonomen die gesamte Macht über die Medizin gegeben hat, ist der Mensch nicht mehr ein Patient, sondern ein Wirtschaftssubjekt. Und er wird auch wie ein Wirtschaftssubjekt behandelt.

Es wird Wettbewerb postuliert und Wettbewerb durchgeführt. Es wird rationalisiert. Immer weniger Leute müssen immer mehr Leistungen erbringen. Und es werden wie in jedem Markt überflüssige Waren zum Höchstpreis angeboten. Das ist Marktwirtschaft.

Was sind die Folgen für das Gesundheitssystem?

Bruch: Nehmen Sie zum Beispiel die Diskussion über die Mengen. Wenn Sie die Preise konstant halten oder sogar reduzieren, wenn Sie Wettbewerb postulieren, dann gibt es gar keine andere Möglichkeit als in die Menge zu gehen. Sehen Sie sich doch mal bitte unseren Markt an.

Da gibt es Aldi und Rewe und wie sie alle heißen. Die werden immer größer. Warum? Weil die riesige Massen produzieren können und mit einem geringen Overhead an Gewinn zufrieden sind. Sie verkaufen ein Produkt so oft, dass es Millionen und Milliarden an Gewinn bringt.

Und in eine ganz ähnliche fatale Situation hat man die Kliniken gezwungen. Die müssen ständig steigende Kosten und Auflagen irgendwie finanzieren. Da das durch den jährlichen Zuwachs an Erlösen nicht geht, haben sie gar keine andere Möglichkeit als entweder vom Markt zu gehen, also in die Pleite, oder die Leistung zu steigern.

Dieses System des Wettbewerbs ist in einem ohnehin superregulierten Markt völlig unsinnig. Es ist an seine Grenzen gestoßen und müsste dringend reformiert werden.

Was würden Sie denn ändern, wenn Sie könnten?

Bruch: Wenn Sie zum Beispiel Nordrhein-Westfalen und die Niederlande vergleichen. Die Bevölkerung unterscheidet sich nur um eine Million, die Größe des Landes ist praktisch gleich, aber wir haben in Nordrhein-Westfalen praktisch drei Mal so viele Kliniken wie in den Niederlanden.

In den Niederlanden mögen es etwas zu wenige sein, aber bei uns sind es mit Sicherheit zu viele. Das heißt mit anderen Worten: Wir müssen darüber reden, ob wir eine richtige Verteilung von ärztlicher Kunst haben.

Die Frage für die Zukunft wird heißen: Wieviel Medizin in welcher Qualifikation brauchen wir an welchen Ort, damit wir die Patienten optimal behandeln können. Diese Frage ist in keiner Weise beantwortet.

Aber wenn jeder um die Probleme weiß, warum bewegt sich nichts?

Bruch: Es sind ganz starke Player auf dem Markt. Wir haben die Bundesärztekammer, wir haben die KBV, wir haben den Marburger Bund und wir haben die Deutsche Krankenhausgesellschaft. Das sind starke Organisationen. Und wir haben die Verbände, die sich immer mehr zusammenschließen und größere Einheiten bilden. Die Zielstellung dieser verschiedenen Player ist vollkommen unterschiedlich.

Die Frage ist selten gestellt worden, ob die Zielstellung derer, die Einfluss und Macht haben im Medizinsektor, immer die ist, das Patientenwohl in den Mittelpunkt des Denkens und Handelns zu rücken. Da darf man doch manchmal sehr geteilter Meinung sein.

Bis jetzt ist doch trotz aller Katastrophenszenarien jahrzehntelang alles gut gegangen. Warum soll das nicht so bleiben?

Bruch: Wir wissen von Eurostat ziemlich genau, dass wir in Europa im Jahr 2020 einen Mangel an Medizinpersonal von einer Million Menschen haben werden. Dass die Wirtschaft in Europa bis 2050 höchstens um 180 Prozent wachsen wird, dass aber die Sozialleistungen um 350 Prozent steigen werden. Und wir wissen, dass wir 2050 58 Millionen Menschen mehr über 65 Jahre haben als jetzt und 48 Millionen weniger unter 16.

Wir wissen darüber hinaus, dass die neuen Bundesländer bis 2020 20 bis 25 Prozent ihrer Bevölkerung verloren haben werden. Das sind riesige Verwerfungen. Das sind generationelle Probleme, an denen können wir in den nächsten 20 Jahren nichts ändern. Damit müssen wir fertig werden. Man muss es aber irgendwo auch auf dem Radar haben. Und das ist nicht der Fall.

Aber wer muss Ihrer Meinung nach eingreifen, um gegenzusteuern?

Bruch: Im Moment wird so getan, als wenn die Verkürzung der Wartezeiten in den Praxen durch die Praxiswartezeitenverkürzungsverordnung nun der Stein der Weisen wäre. Oder ein Qualitätsinstitut, das die Qualität beurteilt in einer Zeit in der wir immer weniger Schwestern und Pfleger pro Patient haben, und in der auch die Ärzte, weil sie ihren Kliniken immer weniger Arbeitszeit zur Verfügung stellen, zum Mangelberuf werden. Da gibt es überhaupt keinen Lösungsansatz. Einfach nur ein Institut aufzumachen nützt nichts.

Sie sehen also auf politischer Seite eher Populismus als eine Suche nachhaltiger Lösungen?

Bruch: Wenn ich gefragt würde, würde ich sagen: Verehrter Herr Minister, wenn schon eine Praxiswartezeitenverkürzungsverordnung, dann doch bitte mit einer Begleitforschung. So dass man nach einem Jahr weiß, in welchen Regionen treten die Probleme auf und welche Fachdisziplinen sind betroffen.

Sind es bestimmte Ärzte, sind es bestimmte Fächer? Dann könnte man daran etwas ändern. So aber hat man nur eine neue Behörde, die jetzt in der KV für die nächsten zehn Jahre installiert ist. Das entzieht alles dem Gesundheitssystem Kapital und bringt im Grunde genommen gar nichts. Das ist ein Pflästerchen auf der schwärenden Wunde des Systems.

Welche Lösung schlagen Sie denn vor?

Bruch: Wir müssen die Leistungen des Medizinsystems an den Bedarf anpassen. Es gibt die medizinische Ökonomik. Das heißt: Es muss angestrebt werden, mit dem geringsten Aufwand für die Gesellschaft und den Patienten, ein optimales Ergebnis für den Patienten im Sinne des Patientenwohls zu erzielen. Diesem Grundsatz kann man gut folgen und sollte es auch. Das tun wir momentan noch in keiner Weise.

Könnten die Missstände in den Kliniken auch mit Defiziten in der Ausbildung zu tun haben?

Bruch: Ich habe bis vor anderthalb Jahren Kollegen geprüft und wir machen im BDC mit großem Erfolg Nachwuchskongresse und bereiten die Leute mit Internisten zusammen aufs Staatsexamen vor. Meiner Meinung nach hat es noch nie eine Medizinergeneration gegeben, die so viel gewusst hat wie die jetzige. Die so kosmopolitisch war, die so interessiert war, insofern wäre ich da sehr vorsichtig.

Diese Generation ist extrem leistungsbereit, aber sie ist vernünftiger als wir und lässt sich nicht mehr so instrumentalisieren. Sie stellt in punkto Arbeitsbedingungen Anforderungen an ihr Umfeld.

Haben Sie das Gefühl, dass Diskussionen wie über den AOK-Report oder über Hygienemängel das Vertrauen der Patienten erschüttern?

Bruch: Natürlich. Und das ist vielleicht sogar das Schlimmste. In den USA gibt es längst eine Wissenschaftsrichtung die heißt Psychoneuroimmunologie und Psychoneuroendokrinologie. Wir wissen heute ganz genau, dass die Selbstzuschreibung eines Menschen und das Vertrauen eines Menschen von entscheidender Bedeutung für das Immunsystem, das endokrine System und damit auch für die Heilung ist.

Was wir derzeit machen, ist brandgefährlich. Wenn es dauernd heißt: Ärzte sind Geschäftemacher. Wenn man in die Klinik kommt, wird man operiert, ob man will oder nicht. Die Ärzte und Schwestern sind große Ferkel, die waschen sich die Hände nicht, dann wird einem himmelangst.

Was kann ein Verband wie Ihrer unternehmen, um Missständen entgegenzuwirken?

Bruch: Wir können vernünftige Ideen formulieren und durch viele Vorträge in die Breite bringen. Oft kriegt man zunächst Wind von vorne. Das muss man aushalten. Wir können den Schulterschluss suchen mit anderen großen Verbänden und dann für 150.000 oder 200.000 Fachärzte sprechen und so einen gewissen Einfluss nehmen.

Da muss man Kompromisse schließen, damit man mit einer Stimme sprechen kann. Außerdem haben wir natürlich die Möglichkeit über Selektivverträge und Verhandlungen mit den fortschrittlicheren Krankenkassen, Modelle zu etablieren, die einen gewissen Charme haben. Es gibt schon eine ganze Menge von Möglichkeiten, wie man Dinge beeinflussen kann.

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