Transplantations-Skandal

Gutacher enthüllen massives Systemversagen

Systematische Verstöße, zahlreiche Manipulations-Verdachtsfälle, ein Klima von Repression und Angst: Gutachter zeichnen ein erschreckendes Bild von den einstigen Zuständen in der Göttinger Transplantationschirurgie.

Von Heidi Niemann Veröffentlicht:
Uniklinik Göttingen: Der Bericht der Expertenkommission zeichnet ein erschreckendes Bild von den früheren Zuständen am Zentrum für Transplantationschirurgie.

Uniklinik Göttingen: Der Bericht der Expertenkommission zeichnet ein erschreckendes Bild von den früheren Zuständen am Zentrum für Transplantationschirurgie.

© Rampfel / dpa

GÖTTINGEN. Eine externe Gutachterkommission hat ein erschreckendes Bild von den einstigen Zuständen in der Transplantationschirurgie des Göttinger Uni-Klinikums gezeichnet.

Die Rede ist von systematischen Verstößen gegen Richtlinien, Manipulationen am laufenden Band, intransparenten Entscheidungen, keinen funktionierenden Kontrollmechanismen, einer Vielzahl medizinisch nicht gerechtfertigter Transplantationen, hierarchischen Strukturen, die Kritik nicht zulassen und einem Klima von Repression und Angst produzieren.

Die dreiköpfige Kommission hatte im Auftrag des Vorstandes die Lebertransplantationen überprüft, die dort zwischen Oktober 2008 und November 2011 stattfanden.

In dieser Zeit leitete Dr. O. die Abteilung. Der Chirurg muss sich seit August vergangenen Jahres wegen versuchten Totschlages in elf Fällen sowie vorsätzlicher Körperverletzung in drei Fällen vor dem Landgericht Göttingen verantworten.

Der Gutachterkommission gehören an: Professor Matthias Rothmund, ehemaliger Dekan der Fachbereichs Medizin an der Universität Marburg, Professor Wolfgang Fleig, Vorstandssprecher des Uniklinikums Leipzig, und Professor Manfred Stangl, chirurgischer Leiter des Transplantationszentrums der Ludwig-Maximilian-Universität München.

In ihrem vertraulichen Bericht, der der "Ärzte Zeitung" vorliegt, üben sie massive Kritik sowohl an den Verantwortlichen der Göttinger Universitätsmedizin als auch an den Strukturen der Transplantationsmedizin in Deutschland.

Die Gutachter haben die Akten von 85 der insgesamt 126 Patienten näher überprüft, die damals am Göttinger Uni-Klinikum eine neue Leber erhielten. In 61 Fällen habe es Verstöße gegeben.

Nicht plausible Sprünge bei Blutwerten

In 34 Fällen bestehe der Verdacht auf Manipulationen bei der Meldung von Patientendaten an Eurotransplant. Nach Ansicht der Gutachter sind die Sprünge bei verschiedenen Blutwerten nicht plausibel, diese müssten auf Manipulationen der Laborwerte beruhen.

Sie begründen dies damit, dass die betreffenden Patienten aufgrund ihrer vermeintlich dramatischen Werte dringend einer Behandlung bedurft hätten. Tatsächlich hätten jedoch weder Kontrolluntersuchungen noch irgendwelche therapeutische Maßnahmen stattgefunden.

Ein Patient mit angeblich dramatischen Blutwerten wurde stattdessen nach Hause entlassen, drei Tage später bekam er eine neue Leber.

Manchmal fielen die Sprünge dem Zentrallabor des Klinikums auf. Daraufhin wurden die Laborwerte mit der Angabe "Falscher Patient" oder "Falsche Probe" zurückgezogen, ohne die an Eurotransplant gemeldeten Werte zu korrigieren.

Eine Reihe von Patienten wurde als dialysepflichtig gemeldet, auch dies waren nach Ansicht der Gutachter bewusste Falschangaben. Bei anderen Patienten wurde eine angebliche Tumorerkrankung diagnostiziert, obwohl dies nie abgeklärt worden war.

"Inadäquate Leitungskultur"

Jeder dieser Verdachtsfälle hätte spätestens bei der Besprechung in der wöchentlichen Transplantationskonferenz auffallen müssen, meinen die Gutachter. Dazu kam es jedoch nie, weil die Leiter der Transplantationschirurgie und der Gastroenterologie keine Transparenz und keine Kritik zuließen.

Die einzelnen Entscheidungen für eine Transplantation seien weder begründet noch angemessen dokumentiert worden. Nachfragen habe der Chirurg regelrecht "niedergebügelt". Diese "inadäquate Leitungskultur" habe ein Klima von "steiler Hierarchie, Repression und Angst" vermittelt, heißt es in dem Bericht.

Allerdings sehen die Gutachter auch eine Mitverantwortung anderer Mitarbeiter, unter anderem beim Koordinationsbüro. Angesichts der hohen Zahl an Verstößen sei es zudem unwahrscheinlich, dass Ärzten und Pflegern der betroffenen Stationen nichts aufgefallen sein soll.

Bereits 2009 habe es sehr konkrete Hinweise auf Richtlinienverstöße gegeben, trotzdem habe niemand übergeordnete Stellen über diese Verdachtsmomente informiert.

Als besonders schwerwiegend werten die Gutachter die sogenannten Indikationsfälle, insgesamt sind es 27. Hier sollen Patienten eine neue Leber bekommen haben, obwohl eine Transplantation medizinisch nicht geboten war oder sogar schwerwiegende Gründe gegen eine Transplantation sprachen.

In einzelnen Fällen habe die Transplantation zu einer Verkürzung der Lebenserwartung geführt.

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