Schwer kranker Junge

Eltern verzichteten auf Arztbesuch

Meditation statt Medizin? Wegen ihrer Weltanschauung sollen eine Frau und ihr Lebenspartner einem schwer kranken Jungen Arznei und Arzt verwehrt haben. Vor Gericht steht Aussage gegen Aussage.

Von Cathérine Simon Veröffentlicht:

NÜRNBERG. Lächelnd und sehr freundlich beantwortet der Angeklagte alle Fragen. Der 55-Jährige im weißen Hemd, mit schulterlangen Haaren und Rauschebart sagt immer wieder, wie wichtig ihm die Kinder waren und dass er und ihre Mutter alles für sie getan hätten.

Auch die 48-jährige Frau beteuert: "Wir haben uns immer um die Kinder gekümmert, wir haben sie nie zu irgendwas gezwungen." Sie trägt die grau-melierten Haare in Flechtfrisur mit Blume und helle gelbe Kleidung - denn "Gelb wirkt wohltuend aufs Gemüt". Unter den Vorwürfen - schwere Misshandlung von Schutzbefohlenen durch Unterlassen - leiden beide Angeklagten nach eigener Aussage sehr.

Die Mutter und ihr Lebensgefährte sollen mit dem schwer kranken, damals zwölfjährigen Sohn der Frau drei Jahre lang nicht zum Arzt gegangen sein und ihm keine Medikamente gegeben haben - obwohl das Kind an Mukoviszidose litt, bei der zäher Schleim unter anderem die Atemwege verstopft. Auch die Verdauungsorgane werden durch die Erkrankung geschädigt.

Selbst als es dem Kind immer schlechter ging und es nur noch 28 Kilo wog, verweigerten die beiden laut Anklage eine Behandlung aus weltanschaulichen Gründen. Seit Dienstag stehen sie vor dem Landgericht Nürnberg-Fürth.

Duftöl gegen schwere Krankheiten

Die Mutter hat sich aus eigener Sicht alle Mühe gegeben: Sie hätten Farb- und Musiktherapie angewandt, Duftöle benutzt, versucht, Stress mit Handpuppen abzubauen und "autogene Drainage" gelernt, um den Schleim auszuatmen. Einen Ananas-Papaya-Mix habe ihr Sohn bekommen - als Ersatz für ein notwendiges Verdauungsenzym, das die Bauchspeicheldrüse ihres Kindes nicht mehr produzierte.

Auch ihr Lebenspartner sagt: "Es waren immer genug Medikamente da." Man habe den Jungen aufgefordert, sie auch zu nehmen. Sie hätten den Kindern keine Nahrungsmittel verboten, sondern sie lediglich angehalten, Bio-Produkte zu essen. Der Angeklagte soll sich Lehrer einer "Neuen Gruppe der Weltendiener" genannt haben.

Er bestreitet das jedoch: "Ich habe mich allerhöchstens als Lehrer der zeitlosen Weisheit bezeichnet." Gegen die Bezeichnungen "Guru" und "Sekte" wehren sich die Angeklagten entschieden. "Sie sind Gespött und Angriffen ausgesetzt, weil sie ganz einfach anders sind als wir", sagt ihr Verteidiger Axel Graemer.

Auch ein Sekten-Experte sagt im Prozess, "Sekte" würde er es nicht nennen. Eher "esoterische Glaubensrichtung". Die Anhänger glaubten an Karma und die "Heranbildung eines neuen Menschen auf einer höheren Evolutionsstufe" mittels Meditation. Die spirituelle Erziehung der Kinder sei wichtiger als das Körperliche.

"Wir sind einfach kritisch Ärzten gegenüber", sagt die Mutter. Sie habe aber niemals Medikamente weggeworfen - höchstens, wenn sie abgelaufen waren. Und ihr Sohn habe immer zum Arzt gehen können, wenn er gewollt hätte. "Die hatten sämtliche Freiheiten, zu entscheiden, was sie wirklich wollen." Die Mutter macht im Prozess den Vater der Kinder für die Probleme verantwortlich. Er habe sie aufgestachelt.

Das alles bestreitet der Sohn. Der heute 27-Jährige erzählt: "Uns wurde gesagt, dass wir Medikamente nicht mehr brauchen." Sie seien weggeworfen oder irgendwo verstaut worden. Er habe sie jedenfalls von einem Tag auf den anderen nicht mehr bekommen.

Der Freund seiner Mutter habe ihm gesagt, "wenn ich alles mitmache, meditiere, bin ich mit 17, 18 geheilt". Er habe das damals geglaubt.Meditiert worden sei jeden Tag - teils schon um drei Uhr morgens und bis zu neun Stunden lang. "Das war schon krass irgendwie."

20 Kilo mehr in sechs Monaten

Ihnen sei eingeredet worden: "Wenn man nicht mitmacht, hat man nicht das Glück, was man halt braucht." Oft habe er sich vor den Fernseher oder seinen Computer geflüchtet - auch, weil er wegen seiner Krankheit "körperlich so kaputt war". Er habe es kaum noch eine Treppe hoch geschafft, geschweige denn Fußball spielen können. "Ich war sofort außer Atem und hatte ständig Kopfschmerzen."

Irgendwann habe er es nicht mehr ausgehalten. "Es war für mich die Hölle." Als er mit 15 Jahren zu seinem leiblichen Vater kam, sei es ihm schnell besser gegangen. "Das war eine Befreiung für mich", sagt der schlanke junge Mann und ringt sichtlich um Fassung.

Er habe dann in einem halben Jahr 20 Kilo zugenommen und die Medikamente hätten ihm schnell geholfen. Im Vergleich zu damals fühle er sich heute recht gut. Alle paar Monate mache er jetzt eine ambulante Therapie.

Der Vorsitzende Richter Ulrich Flechtner geht dazwischen: "Also ich würde sagen, irgendeiner belügt uns hier und zwar massiv." Sohn und Mutter sagten genau Gegenteiliges aus. "Irgendeiner erzählt hier absoluten Mist." Am ersten Prozesstag konnten diese Widersprüche nicht aufgelöst werden. Bis zum 25. Juli sind drei weitere Termine geplant. (dpa)

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