Gastbeitrag zum Regress-Urteil

Das Bundessozialgericht enttäuscht

"Beratung vor Regress" sollte auch für offene Altfälle gelten. Das ist nicht erst der späteren Klarstellung des Gesetzgebers, sondern bereits der Begründung zum Versorgungsstrukturgesetz zu entnehmen - was das Bundessozialgericht ignoriert.

Von Nico Gottwald Veröffentlicht:
Wirtschaftlich verordnet? Bei vielen Ärzten sitzen Regressängste noch immer tief.

Wirtschaftlich verordnet? Bei vielen Ärzten sitzen Regressängste noch immer tief.

© Ralf Dolberg

KASSEL. Die Urteile der Kasseler Richter vom 22. Oktober 2014 in Sachen "Beratung vor Regress"  enttäuschen, versagen sie doch den Vertragsärzten den ersehnten und vom Gesetzgeber vermutlich auch beabsichtigten Neustart der Richtgrößenprüfung. Auch wenn die schriftlichen Urteile noch nicht vorliegen: Bereits die mündliche Urteilsbegründung des Bundessozialgerichts wirft Fragen auf.

Die Urteile müssen sich die Kritik gefallen lassen, den Willen des Gesetzgebers nicht ausreichend gewürdigt zu haben. Der Gesetzgeber ging ausweislich der Gesetzesmaterialien zum Versorgungsstrukturgesetz (GKV-VStG) davon aus, dass Paragraf 106 Absatz 5e SGB V ("Beratung vor Regress") bereits in der Fassung vom 1. Januar 2012 - das heißt auch ohne den später hinzugefügten Satz 7 (Geltung auch "für Verfahren, die am 31.12.2011 noch nicht abgeschlossen waren") - Altfälle vor 2012 erfassen würde.

Eine sofortige Anwendung eines neuen Gesetzes auf zurückliegende Fälle ist nach der bisherigen Rechtsprechung des BSG möglich, wenn es sich, wie hier, um eine begünstigende Regelung handelt und Vertrauensschutzgesichtspunkte nicht entgegenstehen.

Letzteres bestätigte das BSG zwar ausdrücklich, setzte sich jedoch nicht ausreichend mit der komplizierten Frage auseinander, ab wann das Gesetz anzuwenden sei. Mit der Klarstellung in Satz 7 des Paragrafen 106 Abs. 5e SGB V wollte der Gesetzgeber dann alle Zweifel ausräumen.

Die vorgeschriebene individuelle Beratung bei erstmaliger Richtgrößenüberschreitung um mehr als 25 Prozent sollte nach dieser Klarstellung sämtliche offenen Verfahren erfassen, die zum 1. Januar 2012 noch nicht durch eine Entscheidung des Beschwerdeausschusses abgeschlossen waren. Das BSG verweigert dem Gesetzgeber jedoch diese Klarstellung.

Die Gesetzesbegründung war eindeutig

Der Grundsatz "Beratung vor Regress", so die Richter, könne nicht für die Fälle gelten, die vor dem 26.10.2012 entschieden worden waren, dem Datum also, seit dem besagte Klarstellung der rückwirkenden Geltung für unabgeschlossene Altfälle in Kraft ist. Damit entzieht das Gericht dem Anwendungsbereich des Gesetzes, trotz des eindeutigen Wortlauts, den Zeitraum vom 1. Januar bis zum 25. Oktober 2012.

Der Gesetzgeber muss sich zwar vorhalten lassen, dass er den gesamten Paragrafen 106 Abs. 5e SGB V unglücklich formuliert hat - auch dies konnte man aus der mündlichen Urteilsbegründung des BSG heraushören. Dennoch war die Intention des Gesetzgebers der Vorschrift eindeutig zu entnehmen. Die spezifische Auslegung des Merkmals der "erstmaligen Überschreitung" durch das BSG ist sicher rechtlich möglich.

Aber auch hier war den Gesetzgebungsmaterialien eher zu entnehmen, dass ausnahmslos jeder Vertragsarzt vor der Festsetzung eines Regresses zwingend beraten werden müsse. In der Gesetzesbegründung heißt es: "Der Grundsatz ,Beratung vor Regress‘ gilt ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des GKV-VStG am 1. Januar 2012 für alle laufenden und nachfolgenden Verfahren der Prüfgremien - auch soweit sie zurückliegende Prüfzeiträume betreffen.

Die Prüfungsstelle und der Beschwerdeausschuss können seitdem keinen Erstattungsbetrag mehr festsetzen, wenn nicht zu dem früheren Prüfzeitraum die gesetzlich vorgeschriebene individuelle Beratung der Vertragsärztin oder des Vertragsarztes erfolgt ist."

Praxisbesonderheiten beachten!

Viele Prüfgremien setzen derzeit bei erstmaligen Überschreitungen um mehr als 25 Prozent grundsätzlich eine Beratung fest. Dies ist jedoch nur dann zulässig, wenn nach Berücksichtigung aller Praxisbesonderheiten eine Überschreitung um mehr als 15 Prozent des Richtgrößenvolumens verbleibt.

Jeder Vertragsarzt sollte sich daher auch gegen eine Beratung zur Wehr setzen, wenn seine Praxisbesonderheiten nicht ausreichend gewürdigt wurden. Schließlich ermöglicht die erfolgte Beratung den Prüfgremien, für den Prüfzeitraum nach der Beratung erstmals einen Regress festzusetzen.

Den erhofften Neustart der Richtgrößenprüfung könnte das geplante GKV-Versorgungsstärkungsgesetz bringen. Aus dem bisher vorliegenden Referentenentwurf ergibt sich, dass die bundesweit vorgegebene Richtgrößenprüfung abgeschafft werden soll.

Stattdessen sollen die Wirtschaftlichkeitsprüfungen künftig durch die Landesverbände der Kassen und KVen überwiegend in Eigenregie geregelt werden. Es bleibt zu hoffen, dass die unsägliche Richtgrößenprüfung damit in allen KV-Bezirken ein baldiges Ende findet.

Nico Gottwald ist Rechtsanwalt in Sindelfingen und Mitglied der Kanzlei Ratajczak & Partner. Seine Schwerpunkte sind Medizinrecht und Sportrecht.

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