Arztsitz-Verlegung

Berufsfreiheit geht vor

Will die KV die Verlegung eines Arztsitzes innerhalb eines Planungsbezirks blockieren, muss sie dafür gute Gründe anführen. Mit dem Argument künftig drohender Unterversorgung lässt sich der Eingriff in die ärztliche Berufsfreiheit nicht rechtfertigen.

Von Ingo Pflugmacher Veröffentlicht:
Will ein Landarzt seinen Hut nehmen, um in der Stadt im selben Bezirk zu praktizieren, kann die KV ihm das nicht mit pauschalen Hinweisen zur Sicherstellung verweigern.

Will ein Landarzt seinen Hut nehmen, um in der Stadt im selben Bezirk zu praktizieren, kann die KV ihm das nicht mit pauschalen Hinweisen zur Sicherstellung verweigern.

© Klaus Rose

MARBURG. Das Sozialgericht Marburg hat in einer bemerkenswerten Entscheidung vom November vergangenen Jahres die Bedenken der Kassenärztlichen Vereinigung gegen die Verlegung eines Vertragsarztsitzes vom Land in eine Stadt zurückgewiesen.

Dabei hat es das Spannungsverhältnis zwischen der verfassungsrechtlich geschützten Berufsausübungsfreiheit einerseits und den einer Verlegung entgegenstehenden Gründen der vertragsärztlichen Versorgung andererseits konkretisiert (Az.: S 12 KA 531/14 ER).

Darum ging es: Eine 63-jährige Hausärztin wollte ihren Vertragsarztsitz - durch Verzicht zugunsten eines anderen Arztes und nachfolgende Tätigkeit im Anstellungsverhältnis - von einem ländlich geprägten Ort mit 10.000 Einwohnern in eine 15 km entfernte Stadt verlegen.

In der ländlichen Gemeinde waren neben ihr nur acht weitere Hausärzte tätig, in ihrem Ortsteil war sie sogar die einzige Hausärztin.

Was sein könnte, zählt nicht

Zwar hatte der Zulassungsausschuss nichts gegen das Vorhaben der Ärztin einzuwenden. Doch die KV Hessen äußerte Bedenken und wandte sich gegen die Verlegung des Arztsitzes.

Sie begründete dies damit, dass sich die Fahrtzeiten für die Patienten verlängern würden, dass die anderen in dem ländlichen Gebiet praktizierenden Hausärzte aus Altersgründen voraussichtlich demnächst ihre Tätigkeit einstellen würden und grundsätzlich einer Konzentration der Versorgung auf die Stadtgebiete entgegenzuwirken sei.

Zulassungs- und Berufungsausschuss folgten diesen Einwänden der KV nicht und genehmigten die Verlegung, hiergegen erhob die KV Klage, die aufgrund ihrer aufschiebenden Wirkung die Verlegung zunächst verhindert hätte.

In dem daraufhin eingeleiteten Eilverfahren bestätigte das Marburger Sozialgericht die für die Ärztin positive Entscheidung der Berufungsgremien.

Da die Verweigerung der Verlegung in die Berufsfreiheit eingreife, müssten die einer Verlegung entgegenstehenden Gründe konkret vorliegen und nachvollziehbar dargestellt sein, so die Richter.

Der Einwand der KV, aufgrund der Altersstruktur würden mehrere der anderen derzeit regional ansässigen Hausärzte ihre Tätigkeit in absehbarer Zeit einstellen, sei nicht zu berücksichtigen.

Diese Überlegung stelle nämlich nicht auf die konkrete Versorgungssituation, sondern auf eine ungewisse zukünftige Entwicklung ab.

Es sei offen, wann die anderen Ärzte aus Altersgründen ihre Praxistätigkeit einstellen werden, auch sei offen, ob die Vertragsarztsitze nachbesetzt würden oder nicht.

Allein der pauschale Einwand, im ländlichen Bereich sei eine Nachbesetzung problematisch, genüge für die Berücksichtigung solcher Überlegungen nicht.

Fallzahlen unterhalb des Landesdurchschnitts

Darüber hinaus hat das Sozialgericht die Überlegungen der Zulassungsgremien bestätigt, wonach zu berücksichtigen ist, dass einige der im ländlichen Bereich tätigen Hausärzte unterdurchschnittliche Fallzahlen aufweisen.

Sechs der acht im ländlichen Umfeld der Ärztin praktizierende Kollegen wiesen nämlich Fallzahlen unterhalb des Landesdurchschnittes aus.

Hieraus wurde der Schluss gezogen, dass diese noch Kapazität frei haben und die Verlegung des Sitzes der ebenfalls unter dem Fachgruppendurchschnitt liegenden Hausärztin demnach nicht zu Versorgungsengpässen führen dürfte.

Mit seinem Beschluss im Eilverfahren hat das Marburger Sozialgericht drei wichtige Kriterien herausgearbeitet, die bei einem Einspruch der KV gegen eine Arztsitzverlegung zu berücksichtigen sind:

Bestehen alternative hausärztliche Versorgungsmöglichkeiten in Entfernungen von vier bis sieben Kilometern, so ist dies für die Patienten zumutbar und kann der Verlegung nicht entgegengehalten werden.

Mögliche zukünftige Veränderungen in dem Versorgungsgebiet, beispielsweise aufgrund des Alters der dort praktizierenden Ärzte, sind nur dann berücksichtigungsfähig, wenn sich die Einstellung der Praxistätigkeit ohne Nachfolger bereits konkretisiert hat.

Pauschale Vermutungen, dass die Ärzte ohne Nachfolger aufhören werden, genügen nicht.

Schließlich kommt es darauf an, ob die verbleibenden Ärzte Fallzahlen oberhalb des Fachgruppendurchschnitts haben oder unter dem Durchschnitt liegen.

Im letztgenannten Fall ist von Vakanzen auszugehen, eine Beeinträchtigung der Versorgung also auch insofern nicht zu erwarten.

Zusätzliche Patienten zumutbar

Das SG verlangte auch keine Prüfung, ob die verbleibenden Ärzte bereit sind, weitere Patienten zu behandeln.

Dies erscheint jedenfalls dann richtig, wenn - wie in dem berichteten Fall - keine Hinweise darauf vorliegen, dass es für die unterdurchschnittlich arbeitenden Praxen unzumutbar wäre, weitere Patienten zu versorgen.

Die politische und rechtliche Diskussion um den "Landarztmangel" und die "Flucht in die Stadt" wird in den nächsten Jahren anhalten. Die KVen versuchen entsprechend ihrem Auftrag und nach Kräften, die Versorgung auch auf dem Land sicherzustellen.

Da die Berufsfreiheit und damit auch die Wahl des Vertragsarztsitzes innerhalb des jeweiligen Planungsbereiches aber verfassungsrechtlich geschützt ist, bedarf die Entscheidung über die Genehmigung oder Versagung einer Verlegung besonderer Sorgfalt.

Die Entscheidung des SG Marburg zeigt, dass bei aller Sorge um die Sicherstellung der Versorgung die Berufsfreiheit der Vertragsärzte nicht zu kurz kommt.

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