Mord im Krankenhaus

Kliniken setzen auf Whistleblower

Wenn Krankenschwestern oder Pfleger zu Mördern werden, steht auch die Klinik mit dem Rücken an der Wand. Aus Fehlern zu lernen hieß zum Beispiel für die Berliner Charité, es internen Tippgebern leichter zu machen.

Von Ulrike von Leszczynskiund Andrea Barthélémy Veröffentlicht:
Warum hat das niemand früher gemerkt? Diese Frage taucht nach Morden durch Pfleger in Kliniken immer auf.

Warum hat das niemand früher gemerkt? Diese Frage taucht nach Morden durch Pfleger in Kliniken immer auf.

© Philipp Schulze / dpa

BERLIN. In Dresden ermordet eine Krankenschwester Patienten mit zu hoch dosiertem Insulin. Lebenslange Haft lautet das Urteil 2010. Auch der "Todespfleger von Sonthofen" muss 2006 lebenslang ins Gefängnis, weil er Klinikpatienten zu Tode spritzte.

Was unvorstellbar klingt, geschieht immer wieder. Das hat jüngst auch der Prozess um einen ehemaligen Pfleger im niedersächsischen Delmenhorst gezeigt, der nach dem Urteil aus Oldenburg ebenfalls lebenslang in Haft soll.

Lassen sich solche Serientaten nicht früher erkennen? Es sind Fragen, die auch Kliniken umtreiben.

Seit April 2014 ist das interne Melden von Beinahe-Unfällen über ein CIRS-System (Critical Incident Reporting System) für Kliniken in Deutschland gesetzlich vorgeschrieben.

Manche Häuser versuchen, zusätzlich Frühwarnsysteme zu installieren, um es Tippgebern einfacher zu machen, die auf mögliche Straffälle hinweisen wollen.

Die Berliner Charité etwa, die heute in Rankings zur Patientensicherheit sehr gut dasteht, durchlief vor acht Jahren eine Reputationskrise.

Auch hier hatte eine Krankenschwester in den Jahren 2005 und 2006 fünf schwerstkranken Patienten Medikamente verabreicht, die zum Tod führten. Weder Kranke noch Angehörige hatten um Sterbehilfe gebeten.

Frühe Indizien wurden nicht zusammengetragen

Mögliche frühe Indizien durch das Pflegepersonal seien damals nicht zu einem Gesamtbild zusammengetragen worden, resümiert Jan-Steffen Jürgensen, der heutige Leiter des klinischen Qualitäts- und Risikomanagements der Charité.

Mit fatalen Folgen: Bis die Zusammenhänge klar waren, brachte die Schwester drei weitere Patienten um. Das Urteil lautete auf Mord und lebenslange Haft. In der Urteilsbegründung war auch eine ungewöhnlich harsche Kritik am Klinikum zu lesen.

Heute gibt es an der Charité mehrere Frühwarnsysteme, die Ärzte, Pflegepersonal, Mitarbeiter und Patienten bei Missständen nutzen können - auch anonym. Eine dieser "Hotlines", das sogenannte Vertrauenstelefon, ist direkt ein Ergebnis des Skandals von 2007.

Die Leitung führt zu einem Rechtsanwalt, der sich das Anliegen von Klinik-Mitarbeitern anhört. "Dieses Angebot wird rund zwei bis dreimal im Jahr genutzt", berichtet Jürgensen.

Einmal befürchtete ein Pfleger die Misshandlung eines Kindes. Denn er hatte den Jungen nach einer Operation im Aufwachraum mit einer Wunde am After gesehen. "Wir konnten diesen Vorfall schnell aufklären", sagt Jürgensen.

"Der Junge hatte sich auf einer Holzschaukel einen Splitter in den Po gerammt. Bei der Operation ging es darum, einen Abszess zu beseitigen." Dennoch sei die Reaktion des Pflegers richtig gewesen - und von der Klinik gewollt.

CIRS ist nicht gedacht für kriminelle Fälle

Für Mitarbeiter gibt es neben dem Vertrauenstelefon die Möglichkeit, durch anonymisierte Mails kritische Vorfälle zu melden.

Auch das Critical Incident Reporting System (CIRS), ein anonymes Meldesystem für Beinahe-Fehler, übernommen aus der Luftfahrt, hilft bei der Erkennung von Risiken im Behandlungsverlauf.

Wie viele Meldungen via CIRS bundesweit bisher gesammelt wurden, ist laut Deutscher Krankenhausgesellschaft nicht bekannt. Und zum Aufdecken unlauterer und krimineller Vorfälle sei CIRS auch nicht in erster Linie gedacht, heißt es dort.

In der Charité laufen jährlich rund 400 CIRSMeldungen ein. Manchmal hat das ganz praktische Auswirkungen, um Behandlungsfehlern vorzubeugen.

So spritzte ein Arzt einem Patienten mit Magensonde beinahe ein Medikament versehentlich in einen Venenkatheter, statt ihm die Flüssigkeit korrekt über die Sonde zu verabreichen - was lebensgefährlich hätte werden können.

Seitdem haben Spritzen für den oralen Gebrauch in der Charité eine andere Farbe und passen außerdem nicht mehr auf Venenkatheter.

Auch am Klinikum Oldenburg, wo der unlängst verurteilte Pfleger Niels H. ebenfalls arbeitete und derzeit 20 weitere unklare Todesfälle überprüft werden, ist vieles umgekrempelt worden - unter anderem sind hier Kalium-Infusionen heute blau eingefärbt, um sie keinesfalls mit den harmlosen Kochsalzlösungen zu verwechseln.

Am Klinikum in Delmenhorst ist das interne Check-System um spezielle Todesfall-Prüfungen erweitert worden. Weitere Maßnahmen sind nach Angaben des Klinik-Anwalts in Planung.

Mehrere interne Sicherungssysteme

"Wir haben CIRS schon seit einigen Jahren, daneben mehrere weitere interne Sicherungssysteme. Außerdem arbeiten wir derzeit an einem Whistleblowing-System, das ab April an den Start soll", berichtet der Oldenburger Klinik-Geschäftsführer Dirk Tenzer.

"Damit wollen wir die Hemmschwelle weiter senken, Missstände anonym zu melden." Ein von der Geschäftsführung unabhängiger Klinik-Beauftragter soll den Vorwürfen nachgehen - auch in anonymem Austausch mit den Whistleblowern.

"Weil unsere Teams in der Klinik eng zusammenarbeiten, ist es oft sehr schwierig, Vorwürfe laut zu äußern und dennoch vertrauensvoll zusammenzuarbeiten.

"Manchmal werden sogar Strukturen umgekrempelt In Oldenburg habe man gute Erfahrungen mit den internen Sicherungssystemen gemacht, so Tenzer: "Oft geht es dabei darum, dass das falsche Medikament im Töpfchen gelandet ist."

Aber manchmal würden in der Folge auch komplette Strukturen umgekrempelt - etwa Abläufe der Notfallbehandlung. Patienten können sich zudem schriftlich oder auch mündlich via Fürsprecher über ihre Behandlungen äußern - und dabei Missstände benennen.

Kriminelle Energie und vorsätzliche Schädigungen lassen sich auch mit solchen Systemen nicht immer verhindern, aber zumindest öfter erkennbar machen.

Hier können laut Jürgensen zudem statistische Erfassungen von Komplikationen und Todesfällen als eine Art Frühwarnsystem helfen.

Deshalb vergleicht die Charité ihre Ergebnisse transparent mit anderen Kliniken, die sich in der Initiative Qualitätsmedizin zusammengeschlossenen haben. (dpa)

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