Pflegenotstand in Deutschland

Die Klage ist gescheitert, der Missstand bleibt

Es war wohl ohnehin nur eine Verzweiflungstat: Die Verfassungsbeschwerde gegen den "Pflegenotstand" ist gescheitert. Doch die Situation in den Heimen hat sich dadurch nicht gebessert.

Martin WortmannVon Martin Wortmann Veröffentlicht:
Alleine aufstehen? In manchen Einrichtungen gibt es Missstände.

Alleine aufstehen? In manchen Einrichtungen gibt es Missstände.

© Kaarsten / fotolia.com

NEU-ISENBURG. Große Aufmerksamkeit war dem Sozialverband VdK gewiss, als er im April 2014 eine Verfassungsklage gegen den "Pflegenotstand" ankündigte. Schon damals war klar: Die Hürden sind hoch, die Chancen einer Verfassungsbeschwerde äußerst gering. Doch der mit 1,7 Millionen Mitgliedern größte Sozialverband Deutschlands kann als eine Art Seismograf für die sozialen Ängste der Deutschen gelten.

Die Sorge, dereinst nicht gut versorgt zu werden, treibt gerade auch die Bürger um, die bislang noch nicht auf eine stationäre Versorgung angewiesen sind. Der Versuch des VdK, ein Einschreiten des Gesetzgebers gegen Pflegemissstände zu erzwingen, ist nun gescheitert.

Das Bundesverfassungsgericht nahm die Verfassungsbeschwerde gar nicht erst zur Entscheidung an. Ein konkretes Gesetz lasse sich "nur in seltenen Ausnahmefällen" einklagen, "eine Verletzung einer grundrechtlichen Schutzpflicht" sei hierfür nicht ausreichend dargelegt worden.

Betroffene müssen Fachgerichte anrufen

Mit seiner Verfassungsbeschwerde hatte der VdK ein "kollektives Wegschauen" gerügt. Alte Menschen würden "ins Bett hineingepflegt", dort fixiert oder mit Tabletten ruhig gestellt. "Katheter und Windeln statt Toilettengang, Essen im Bett statt begleitetes Gehen in den Speisesaal, Abstellen im Rollstuhl statt Unterstützung bei Gehversuchen" - all dies sei gängige Praxis, um Zeit und damit Kosten zu sparen.

Viel zu häufig würden deshalb auch Sonden zur künstlichen Ernährung gelegt. Dies seien nicht Einzelfälle, sondern sei ein "systemisches Versagen", argumentierte der Sozialverband. Daher seien Staat und Gesetzgeber aufgerufen, die Pflegebedürftigen zu schützen.

Die vom VdK unterstützten zuletzt sechs Beschwerdeführer sind überwiegend bereits auf ambulante Pflege angewiesen und gehen davon aus, dass sie künftig in ein Heim müssen. "Sie fürchten, dass dann auch sie von den verbreiteten Missständen in der stationären Pflege betroffen sein werden, ohne aber im Heim noch in der Lage zu sein, sich effektiv dagegen zu wehren", hieß es in der Verfassungsbeschwerde.

Mit dieser Argumentation und der Auswahl der Beschwerdeführer wollte der VdK vermeiden, dass das Bundesverfassungsgericht sie auf Einzelfallklagen vor den Fachgerichten verweist. Aus gleichem Grund klammert die Beschwerde das Thema Gewalt in Pflegeheimen weitgehend aus.

"Popularklage" ist dem Gesetz unbekannt

Doch die juristisch ausgeklügelte Strategie hatte keinen Erfolg. "Gegenüber grundrechtswidrigen Pflegemaßnahmen ist um fachgerichtlichen Rechtsschutz zu ersuchen", heißt es in dem Karlsruher Beschluss. Vor allem aber betonte das Bundesverfassungsgericht, dass es Aufgabe des Gesetzgebers sei, die Rahmenbedingungen für die Pflege festzulegen.

"Die Verfassungsbeschwerde ist ein Rechtsbehelf zur Verteidigung eigener subjektiver Rechte", und eine "Popularklage" sei dem Grundgesetz unbekannt. "Nur in seltenen Ausnahmefällen lassen sich der Verfassung konkrete Pflichten entnehmen, die den Gesetzgeber zu einem bestimmten Tätigwerden zwingen."

Diese hohe Hürde konnten die Beschwerdeführer nicht nehmen. "Eine Verletzung einer grundrechtlichen Schutzpflicht durch Unterlassen des Gesetzgebers ist nicht hinreichend substantiiert vorgetragen worden", heißt esin dem Karlsruher Beschluss. Und weiter: "Die Verfassungsbeschwerde zeigt nicht hinreichend substantiiert auf, dass die Beschwerdeführer selbst, gegenwärtig und unmittelbar in ihren Grundrechten verletzt sind."

Es stehe ihnen ja auch frei, ihr künftiges Pflegeheim selbst auszuwählen. Zudem rügt das Bundesverfassungsgericht, die Beschwerde zeige nicht auf, an welchen Stellen die derzeitigen Regelungen unzureichend sind und inwieweit Änderungen die Situation verbessern könnten.

Verbandsklagerecht wäre hilfreich

Damit ist die Verfassungsbeschwerde gescheitert. Schluss und Punkt - juristisch jedenfalls. Tatsächlich aber hat sich die Situation in den Pflegeheimen wohl kaum geändert. Dass diese Situation einen Verband wie den VdK zu einem Schritt der Verzweiflung trieb, sollte Bürgern und Politik weiter zu denken geben.

"Die Mängel und der Notstand in Pflegeheimen sind aus unserer Sicht evident und hinreichend belegt. Immer noch gibt es zu wenige Pflegekräfte, zu wenig Zeit und zu wenig Aufmerksamkeit", stellte VdK-Präsidentin Ulrike Mascher nach Bekanntgabe der Karlsruher Entscheidung fest. Diese dürfe daher "kein Freibrief sein, dieses Thema ad acta zu legen".

Der individuelle Rechtsschutz in Einzelfällen hat sich nicht nur nach Einschätzung des VdK als bislang wenig effektiv erwiesen. Dass Pflegebedürftige gegen das Heim vorgehen, von dessen Mitarbeitern und Leitung sie weitgehend abhängig sind, ist wohl tatsächlich wenig realistisch. Ein Verbandsklagerecht gegen Heimbetreiber könnte Verbänden wie dem VdK bei ihrer Arbeit dagegen helfen.

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