Lehren aus der Contergan-Tragödie

Die Contergan-Tragödie vor einem halben Jahrhundert hat bei Grünenthal wie bei der gesamten Pharmabranche zu einem einschneidenden Paradigmenwechsel geführt.

Ilse SchlingensiepenVon Ilse Schlingensiepen Veröffentlicht:

KÖLN/NEU-ISENBURG. "Wir haben bereits seit Jahren ein System von Risk-Management-Plänen eingeführt, in denen wir fortlaufend unsere neuen Wirkstoffe und Arzneimittel gemäß der jeweils neuesten Erkenntnisse der Wissenschaft bewerten und überwachen", beschreibt Frank Schönrock, Unternehmenskommunikationschef bei Grünenthal, die Konsequenzen, die der ehemalige Contergan-Anbieter aus den Ereignissen in den 1960er Jahren gezogen hat.

Erst ab Mitte 2012 gesetzliche Arzneimittelüberwachung und -bewertung

Gesetzlich verpflichtend werde dieses Vorgehen erst ab Mitte 2012 für alle neuen Wirkstoffe. Die Erfahrungen mit der Contergan-Tragödie hätten nicht nur den Umgang von Grünenthal mit dem Thema Arzneisicherheit geprägt, sondern die gesamte Pharmabranche verändert, sagt er.

Grünenthal hat nach eigenen Angaben alles getan, um eine erneute Katastrophe zu verhindern. "Der verantwortungsvolle und kompetente Umgang mit Informationen über mögliche Verdachtsfälle ist fest in unserer Unternehmensphilosophie verankert", so Schönrock. Grünenthal wolle das Personal weltweit schulen. Für alle neuen Mitarbeiter sei die Schulung verpflichtend.

Opferverbände machen Front

Rund 5000 Kinder kamen in Deutschland nach der Einnahme von Contergan durch die Mutter mit Missbildungen zur Welt. Rund 2700 davon leben nach Angaben des Opferverbandes Contergan Schleswig-Holstein noch.

Im Nachgang zur Contergan-Marktrücknahme am 27. November 1962 leistete Grünenthal Entschädigungszahlungen in Höhe von insgesamt 101 Millionen Euro an eine Stiftung.

Das Unternehmen sieht sich weiterhin Forderungen von Opferverbänden ausgesetzt, die auf eine Kompensation je Opfer von 100.000 Euro pochen.

Nach seinen Angaben bildet das Unternehmen alle Mitarbeiter darin aus, verantwortungsvoll und kompetent mit der Meldung von Nebenwirkungen umzugehen, der Außendienst sei besonders sensibilisiert.

Alle Infos laufen bei speziell ausgebildeten Fachkräften zusammen, die in direktem Austausch mit den verschreibenden Ärzten stehen, um wichtige Infos über die beobachteten Nebenwirkungen zu erfassen.

Pharmakovigilanz nach den neuesten Erkenntnissen der Wissenschaft

"Die für uns in Europa relevanten nationalen Behörden haben uns im Rahmen von Inspektionen bestätigt, dass Grünenthal ein gut ausgebildetes Pharmakovigilanz-System inklusive des Meldesystems hat", berichtet er.

Der Hersteller hält es für wichtig, dass die nationalen und internationalen Anforderungen an die Pharmakovigilanz stetig nach den neuesten Erkenntnissen der Wissenschaft überarbeitet und angepasst werden. "Auf diese Weise wird alles Notwendige getan, die ohnehin schon hohen Sicherheitsstandards für Patienten noch weiter zu erhöhen."

Contergan sei und bleibe fester Teil der Geschichte Grünenthals und der gesamten pharmazeutischen Industrie weltweit, sagt Schönrock.

"Es ist besonders tragisch, dass erst diese Tragödie Wissenschaftlern, Politikern und auch der Bevölkerung verdeutlichte, dass allgemein gültige, gleichbleibend intensive und umfangreiche Studien notwendig sind, um mit der größtmöglichen Sicherheit eine neue Substanz einzuführen."

"Wir leisten schnelle, unbürokratische Unterstützung mit individuellen Sachleistungen"

Der verantwortungsvolle Umgang mit den Contergan-Opfern sei Grünenthal sehr wichtig. "Wir bedauern die Tragödie zutiefst, haben einen kontinuierlichen Dialog mit Betroffenen initiiert und etabliert und leisten finanzielle Unterstützung."

Das Unternehmen habe kürzlich eine weitere Initiative ins Leben gerufen: "Wir leisten schnelle, unbürokratische Unterstützung mit individuellen Sachleistungen, die uns schwerst Betroffene selbst vorschlagen."

Die Contergan-Marktrücknahme vor 50 Jahren gab Pharmaindustrie und Gesetzgeber wichtige Anstöße für die Arzneimittelsicherheit. So entwickelten Forscher 1964 erstmals ein auf einem Tierversuch basierendes Testverfahren, durch das sich die Gefahr von Missbildungen nachweisen lässt.

Derzeitige thaliomidhaltigen Mittel gegen Multiples Myelom

Seitdem gehören bei jedem neuen Wirkstoff Prüfungen auf Teratogenität - eine Missbildungen hervorrufende Wirkung auf Embryonen und Föten - zum festen Bestandteil des vorklinischen Testprogramms. Ende der sechziger Jahre wurde der Contergan-Wirkstoff Thalidomid noch einmal Sicherheitstests unterzogen.

Dabei wurde auf Basis der entwickelten Tierversuche belegt, wie gefährlich sich die Substanz für die Embryonalentwicklung auswirkt. Die derzeit auf dem Markt vorhandenen thalidomidhaltigen Medikamente dienen nicht mehr als Schlafmittel, sondern werden zur Therapie des Multiplen Myeloms eingesetzt.

"Die deutschen Arzneimittelgesetze von 1961 und 1978 leiteten sich aus der Contergan-Tragödie ebenso ab wie etliche toxikologische Tests. Die Triade ‚Geprüfte Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit‘ wurde zum Fundament jeder Medikamentenzulassung.

Contergan-Tragödie war ein überdeutliches Alarmsignal

Die Ereignisse von damals bleiben eine Tragödie, doch kann man wenigstens sagen, dass alle aus ihr gelernt haben", erklärt Dr. Siegfried Throm, Geschäftsführer Forschung/Entwicklung/Innovation des Verbandes forschender Arzneimittelhersteller, im Gespräch mit der "Ärzte Zeitung".

"Die Contergan-Tragödie war damals ein überdeutliches Alarmsignal für Politik und Firmen: Weitermachen wie zuvor war keine Option mehr! Ein umfassendes Anforderungsraster für Medikamente tat not, und nichts durfte mehr in die Anwendung gelangen, was diesem Raster nicht genügt", ergänzt Throm.

Im ersten deutschen Arzneimittelgesetz von 1978 wurden Tests auf Teratogenität als Vorbedingung für eine Medikamentenzulassung zwingend vorgeschrieben. Die Entwicklung eines Wirkstoffs wird in der Regel gestoppt, wenn sich zeigt, dass er teratogen ist.

Wichtige Ausnahme: Sofern es sich um schwere Krankheiten handelt, die mit bisherigen Arzneimitteln nicht gut therapierbar sind, kann die Entwicklung fortgesetzt werden.

Contergan - Abriss der Chronologie

Das Aachener Unternehmen Grünenthal betont, Contergan nach dem ersten Verdacht auf Missbildungen schnell vom Markt genommen zu haben. Dagegen führte die Staatsanwaltschaft beim Contergan-Prozess 1968 in ihrer Anklage aus, Grünenthal habe nicht angemessen und nicht schnell genug reagiert.

Das untermauerte sie in der Anklageschrift mit folgenden Ereignissen:

1. Oktober 1957: Markteinführung von Contergan in Westdeutschland.

Herbst 1959: Erste Hinweise auf Nervenschäden nach Contergan-Einnahme.

18. November 1961: Der Oberarzt Widukind Lenz aus Hamburg äußert auf der Jahrestagung rheinisch-westfälischer Kinderärzteseinen Verdacht auf einen möglichen Zusammenhang zwischen Contergan und Missbildungen bei Neugeborenen.

24. November: Das NRW-Innenministerium verlangt die Marktrücknahme. Grünenthal lehnt ab, ist aber bereit, die Arznei mit dem Klebezettel zu versehen: "An Schwangere nicht zu verabreichen".

26. November: Eine Zeitung berichtet über den Verdacht, Contergan könne zu Missbildungen bei Neugeborenenführen. Grünenthal beschließt, Contergan aus dem Handel zu nehmen und telegrafiert an das Innenministerium: "Bis zur wissenschaftlichen Klärung ziehen wir Contergan mit sofortiger Wirkung aus dem Handel zurück."

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