100 Jahre Ottobock

Vom Holzbein zur Hightech-Prothese

Als vor einem Jahrhundert viele Soldaten kriegsversehrt von der Front kamen, hatte Otto Bock eine Idee: Er begann, Prothesen industriell herzustellen. In diesem Jahr feiert sein Unternehmen das 100-jährige Bestehen.

Von Matthias Brunnert Veröffentlicht:
Bundeskanzlerin Angela Merkel bekam beim Festakt zum 100. Jubiläum des Prothesenherstellers Ottobock am Montag von Hans Georg Näder, Vorsitzender des Verwaltungsrates, einen Blumenstrauß überreicht.

Bundeskanzlerin Angela Merkel bekam beim Festakt zum 100. Jubiläum des Prothesenherstellers Ottobock am Montag von Hans Georg Näder, Vorsitzender des Verwaltungsrates, einen Blumenstrauß überreicht.

© dpa

DUDERSTADT. Heutzutage würde man wohl von einem Start-up sprechen: Als Otto Bock vor 100 Jahren eine Idee hatte, gründete er in Berlin-Kreuzberg einfach eine Firma. Er hatte erkannt, dass viele der von Amputationen betroffenen Weltkriegsopfer mit handwerklichen Mitteln nicht ausreichend versorgt werden konnten. Im Jahr 1919 begann seine Orthopädische Industrie GmbH schließlich, Bauteile für Prothesen industriell zu produzieren. Bock leitete auf seinem Gebiet ein neues Zeitalter ein.

Heute gilt die Prothesentechnik als Hightech-Branche und das Familienunternehmen Ottobock als einer der weltweit größten Anbieter. In Deutschland werden Prothesen jedoch inzwischen weniger für Kriegsversehrte benötigt als für ältere Diabetes-Patienten oder Unfallopfer, denen Gliedmaßen amputiert werden mussten, sagt der Geschäftsführer des Bundesinnungsverbands für Orthopädietechnik, Norbert Stein.

Die Wachstumsaussichten der Orthopädietechnik-Branche seien gut: Die Zahl der Menschen, die eine Hightech-Prothese benötigen, werde angesichts der zunehmend älter werdenden Bevölkerung steigen, so Stein.

Bewegte Historie

Jüngste Beispiele für Innovationen von Ottobock, das seinen Hauptsitz im niedersächsischen Duderstadt hat, sind die KI-Mustererkennung Myo Plus, die Handbewegungen mit einer Prothese automatisiert, oder das C-Brace Orthesensystem, das partiell Gelähmte wieder gehen lässt.

Mithilfe des C-Legs, einer mikroprozessor-gesteuerten Beinprothese, konnte der frühere Formel-1-Pilot Alex Zanardi wieder Rennen fahren – zuvor waren ihm nach einem Unfall auf dem Lausitzring 2001 beide Beine oberhalb der Knie amputiert worden. Mehr als 70.000 Menschen weltweit wurden laut Unternehmensangaben mit einem C-Leg versorgt. Jedes von ihnen kostet 28.000 Euro.

Hightech dieser Art lag noch in weiter Ferne, als Ottobock im Gründungsjahr aus dem politisch unruhigen Berlin in den Thüringer Wald umzog – damals ging es eher um die Herstellung von Holzbeinen. Die Firma zog 1947 nach der Enteignung in der damaligen Sowjetzone erneut zwangsweise um. Max Näder, Schwiegersohn des Gründers, fing in Duderstadt neu an.

1990 übernahm Hans-Georg Näder, Enkel des Gründers, die Leitung des Unternehmens, das bis heute auf gut 7000 Mitarbeiter an mehr als 50 Standorten gewachsen ist. Der Umsatz betrug 2017 rund 927 Millionen Euro. Gründerenkel Näder selbst gehört nach Recherchen des Wirtschaftsmagazins „Bilanz“ mit einem geschätzten Vermögen von 2,3 Milliarden Euro zu den reichsten Menschen in Niedersachsen.

Dabei brachte die technologische Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte auch der Prothesenherstellung einen Schub. Die Produkte hätten ein derart hohes Niveau erreicht, dass manche Prothesen praktisch durch Gedanken gesteuert werden könnten, so Experte Stein.

Ottobock entwickelte unter anderem eine Orthese, die Menschen mit gelähmten Beinen das Laufen ermöglichen soll. „Wir befinden uns direkt in der Schnittmenge zwischen künstlicher Intelligenz, Mensch-Maschine-Schnittstelle, Cyborgs und Robotik“, sagt Professor Hans Georg Näder, Vorsitzender des Verwaltungsrats der Ottobock SE & Co. KGaA.

Bei Arm- und Beinprothesen ist das Unternehmen nach Angaben des Verbandes der Hightech-Industrie Spectaris Weltmarktführer. Zudem gehört Ottbock laut Analyse des Londoner Beratungsunternehmens Technavio im gesamten Markt für Prothesen zu den größten fünf Anbietern neben wie Firmen wie Blatchford (GB) und Fillauer (USA).

Seit mehr als 30 Jahren unterstützt das Unternehmen auch zahlreiche Athleten bei den Paralympics, den Olympischen Spielen für Sportler mit Behinderung. „Gemeinsam haben wir es uns zum Ziel gesetzt, Menschen mit Mobilitäts-Einschränkungen einen besseren Zugang zum Sport zu ermöglichen“, sagt Friedhelm Julius Beucher, Präsident des Deutschen Behindertensportverbandes. Allein zu den Olympischen Sommerspielen in Rio de Janeiro 2016 habe Ottobock ein 100-köpfiges Team entsandt.

Festakt würdigt Firmenjubiläum

Das Unternehmen plant über das Jubiläumsjahr verteilt verschiedene Aktivitäten. Am Montag würdigte die Stadt Duderstadt den 100. Geburtstag des Unternehmens mit einem Festakt, zu dem neben Bürgermeister Wolfgang Nolte und dem niedersächsischen Ministerpräsidenten Stephan Weil (SPD) auch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) kamen. Letztere bezeichnete 2019 als „ein wichtiges Jahr und ein wichtiges Jubiläum für Ottobock und Deutschland“.

Die Tatsache, dass Technologie dem Menschen dient, präge die Unternehmensgeschichte. „Ein solches Unternehmen ist aber auch harte Arbeit, ständige Entscheidungen, Richtungen, guter Blick für die Wettbewerber, da die Welt wirklich nicht schläft,“ so die Bundeskanzlerin vor rund 350 geladenen Ehrengästen. Das Unternehmen habe entscheidend dazu beigetragen, Menschen zurück in Ihren Alltag zu bringen und Behinderungen in der Gesellschaft zu enttabuisieren.

„Wachstum war hier immer stark durch Innovation getrieben – Familienunternehmen 4.0“, sagte der niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil. Zuvor hatte der Duderstädter Bürgermeister Wolfgang Nolte die Bedeutung von Ottobock für die Region unterstrichen. Der Verwaltungsratsvorsitzende Professor Hans Georg Näder blickte in die Zukunft: „Neugierde hat zu bahnbrechenden Erfindungen geführt und Menschen mit Handicap dramatisch verändert. Es hat weltweit die Orthopädietechnik geprägt und verändert. Im Mittelpunkt steht der Mensch, gestern wie auch noch heute.“ (dpa/eb)

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