Kassentrojaner oder nützliches Tool?

Endlich ein IT-Standard für alle Selektivverträge - was sich im ersten Moment gut anhört, könnte laut Ärzteverbänden die Vertragslandschaft umwälzen. Doch welche Auswirkungen hat die neue Technik auf die Praxen?

Rebekka HöhlVon Rebekka Höhl Veröffentlicht:
Technisch soll die Standard-Schnittstelle nicht mehr definieren als den Ex- und Import von Daten aus der und in die Praxis-EDV.

Technisch soll die Standard-Schnittstelle nicht mehr definieren als den Ex- und Import von Daten aus der und in die Praxis-EDV.

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Die Technik für Selektivverträge nach Paragraf 73b und 73c SGB V steht vor einem Wandel: AOK-Bundesverband und KV-Telematik-ARGE arbeiten an einer Standard-Schnittstelle für die Arztinformationssysteme (AIS).

Und an der sind laut der AOK Systems GmbH oder besser dem für die Schnittstelle zuständigen Arbeitsbereich der AOK, der gevko (Gesundheit - Versorgung - Kommunikation), neben den Ersatzkassen auch erste BKKen interessiert. Doch was bedeutet der Standard für die Praxisteams - im Falle neuer und bestehender Verträge?

"Wir begrüßen sehr, dass man nun doch eine Harmonisierung anstrebt"

Die Arztsoftware-Systeme sollten profitieren, so die Meinung aus den Reihen der IT-Hersteller. Bereits im Juni 2010 hatten sie über ihren Branchenverband, den VHitG - Verband der Hersteller von IT-Lösungen für das Gesundheitswesen (der mittlerweile als bvitg - Bundesverband Gesundheits-IT e.V. firmiert), eine Vereinheitlichung der Schnittstellenformate gefordert.

"Wir begrüßen sehr, dass man nun doch eine Harmonisierung anstrebt und Schnittstellenformate für Export- und Importfunktionalitäten kostenlos und gemeinfrei für alle Interessierten zur Verfügung stellt", sagt Dr. Erich Gehlen, Geschäftsführer des genossenschaftlichen Softwarehauses Duria. Ähnliches ist aus dem Hause Frey ADV GmbH zu hören.

Bisher Integration von drei Schnittstellen

Denn bisher hätten die Software-Häuser drei Schnittstellen für die Umsetzung der IT-Anforderungen im Rahmen der Selektivverträge in ihre Systeme integrieren müssen: die Schnittstelle der gevko, die der KV-Telematik-Arge und die der Hausärztlichen Vertragsgemeinschaft (HÄVG).

Nun könnte man sagen, drei Schnittstellen ist nicht unbedingt eine hohe Zahl. Aber: Obwohl laut Gehlen alle drei Schnittstellen dasselbe Thema besetzen, sei keine identisch mit der anderen. Der Aufwand, den die Softwarehäuser bislang betrieben hätten, sei unverhältnismäßig hoch.

Ein Thema, das auch medatixx-Geschäftsführer Jens Naumann schon Anfang September zur Diskussion gestellt hatte. Bereits diese Vielfalt erhöhe nämlich schon die Fehleranfälligkeit der Systeme. Und: Es ist ja durchaus davon auszugehen, dass noch eine Reihe weiterer Selektivverträge folgen.

Auslöser sollen die EDV-Häuser gewesen sein

Auch Dr. Gunter Hauptmann, Vorsitzender der KV-Telematik-ARGE, bestätigt, dass die EDV-Hersteller auf die ARGE und auf den AOK-Bundesverband zugegangen seien und um eine einheitliche Lösung gebeten hätten.

Denn unabhängig voneinander hätten ARGE und der AOK-Bundesverband bereits jeweils an einer Standard-Schnittstelle für die Verträge, die sie betreuen, gearbeitet. Die Softwarehäuser hätten erklärt, dass sie manche Verträge aufgrund der hohen Kosten und der geringen Zahl an Nutzern eventuell gar nicht mehr umsetzen könnten, so Hauptmann.

Vorteil der besseren Wartbarkeit

Für Gehlen liegt der Vorteil eines Standards darin, dass die IT-Anbieter ihre Software künftig besser warten könnten. Und da sich dann auch die Komplexität der unterschiedlichen Ansätze verringere, werde es natürlich auch einfacher, neue Verträge schnell in die Praxisverwaltungssysteme zu integrieren.

Und die Vorteile für die Anwender, also die Ärzte? Das seien einmal eine größere Stabilität der Systeme und einheitliche Wege im Vertragsmodul, so Gehlen. Das heißt, es entsteht in den Praxen weniger Aufwand für die Einarbeitung in neue Softwaremodule. Aber auch bei den Kosten ergeben sich nach Angaben der Softwarehäuser Vorteile.

Keine Preiserhöhung zu befürchten

Bei Duria haben die Preise fürs Vertragsmodul zwar von Anfang an festgestanden. Das Unternehmen bietet eine Art Flatrate für die Anwender. Die Vereinheitlichung ermögliche es dem Softwarehaus aber auch künftig bei den bisherigen Preisen zu bleiben, sagt Gehlen.

Eine Preiserhöhung müssten Ärzte dann also nicht befürchten. Auch Naumann hatte damals den Kosteneffekt genannt: Würde die bisherige Spezifikationsvielfalt bleiben, würden die Preise für Vertragssoftwaremodule unnötig steigen, lautete seine Prognose.

Einheitliche Schnittstelle schaffe mehr Transparenz, so CompuGROUP

Eine Prognose, die Lars Wichmann von der Frey ADV GmbH nur bestätigen kann: Wenn es künftig noch mehr Schnittstellen gäbe, würde das die Kosten erhöhen.

Dr. Jens Finnern von der CompuGROUP Medical AG sieht die Vorteile zwar eher bei den Kassen als bei den Ärzten. Denn eine einheitliche Schnittstelle - sofern sie für eine gewisse Zahl von Verträgen genutzt wird - schaffe mehr Transparenz.

Was nicht unbedingt schlecht für die Ärzte sein müsste. Aber natürlich könnten die EDV-Kosten für die Ärzte sinken, wenn die Technologie weiterverwertet würde. Die CompuGROUP-Unternehmen werden die Schnittstelle laut Finnern nur dann umsetzen, wenn ihre Kunden - also die Ärzte - diese Lösung auch wünschen.

Monopolistische Infrastruktur wird befürchtet

Deutscher Hausärzteverband und MEDI Bundesverband sehen die Standard-Schnittstelle weiterhin kritisch. Gar nicht so sehr, weil man einen eigenen Standard etablieren will, wie sich im Gespräch mit Hausärzteverbands-Chef Ulrich Weigeldt zeigt.

Sondern weil der Verband befürchte, dass hier eine monopolistische Infrastruktur geschaffen werde, bei der die Ärzte nicht mehr mitreden könnten, so Weigeldt. Weigeldt sieht in der Schnittstelle daher auch eher den Versuch, die "lästige Alternative der Selektivverträge loszuwerden".

Eine verpflichtende IT-Infrastruktur für alle?

MEDI-Chef Dr. Werner Baumgärtner befürchtet in einem Rundschreiben an die MEDI-Mitglieder zudem, dass um die Schnittstelle herum eine ganze Infrastruktur aufgebaut werde, die verpflichtend von allen, die Selektivverträge bedienten, genutzt werden müsse.

Das belegten die Eckpunkte der Vereinbarung zwischen AOK Bundesverband und KV-Telematik-Arge. Das Papier aus dem Haus der Telematik-Arge, das der "Ärzte Zeitung" vorliegt, sieht in der Tat vor, dass bezüglich der Kommunikation die heute geltenden Standards, wie KV-SafeNet und KV-Backbone, für die Anbindung von Praxen und Kliniken im Rahmen der Kooperation genutzt werden sollen.

Hauptmann erklärt, was dahinter steckt: Der AOK-Bundesverband habe den Wunsch geäußert, dass er die sicheren Kommunikationsstandards der KVen nutzen wolle. Daraus ergebe sich aber keine Pflicht zur Nutzung.

"Wir wollen damit kein Geld verdienen"

Und auch die Formulierung in den Eckpunkten, dass für Verträge ohne KV-Beteiligung noch zu vereinbarende Nutzungsentgelte erhoben werden, scheint weniger kritisch als vermutet. Hierbei handele es sich nicht um ein Geschäftsmodell, sagt Hauptmann.

"Wir wollen damit kein Geld verdienen." Es sei aber nun einmal so, dass die Mitglieder der Telematik-Arge, das sind alle KVen außer der KV Hessen, Geld in die Entwicklung der Schnittstelle stecken würden, ebenso wie der AOK-Bundesverband.

Daher gebe es Überlegungen, dass Nicht-Mitglieder, die die Technik und Kommunikationsstandards nutzen wollten, sich später in irgendeiner Form "niedrigschwellig" an den Entwicklungskosten - die ja die Ärzte vorfinanzierten - beteiligen sollten. Wie genau das aussehen könnte, darüber seien sich die Telematik-ARGE-Mitglieder noch nicht einig.

Definitionen der Schnittstelle als "Open Source"

Aber: Es handele sich nach wie vor um bereit gestellte Standards. Was einzelne Vertragspartner aushandeln - auch in Sachen IT-Umsetzung - bleibe ihnen überlassen.

Generell würde die KV-Telematik-ARGE die Definitionen der Schnittstelle als "Open Source" zur Verfügung stellen, so Hauptmann, und zwar auch für die verschiedenen Verbände und Netze.

Und auch das Thema "Kassentrojaner" ist für den Hausärzteverband noch nicht gänzlich vom Tisch, auch wenn Weigeldt selbst sagt, dass die Schnittstelle vereinfacht ja erst einmal nichts anderes sei, als dass man einen Stecker an ein Gerät schließe und Daten fließen könnten.

Der "gekapselte Kern" soll spezielle Vertragsinhalte beinhalten

"Wenn so ein Kassenverbund sehr viel Geld in die Hand nimmt - da wird von Millionenbeträgen gesprochen - dann macht er das nicht nur, um Ärzten eine IT-Schnittstelle zur Verfügung zu stellen." Außerdem gebe es ja mit der Schnittstelle des Hausärzteverbandes bereits eine allen Softwarehäusern kostenfrei zugängliche Schnittstelle.

Der "gekapselte Kern" beinhaltet laut Hausärzteverband nicht mehr als spezielle Vertragsinhalte wie etwa im Fall des AOK-Hausärztevertrags in Baden-Württemberg die Rabattverträge der AOK Baden-Württemberg. Dass die Vertragspartner diese nicht unbedingt offenlegen möchten, sei wohl mehr als verständlich.

Datenformate für den Export und Import von Daten aus und in das Arztinformationssystem

Die geplante Standard-Schnittstelle, an der gevko und KV-Telematik-Arge derzeit arbeiten, definiere, wie Duria-Geschäftsführer Gehlen berichtet, nicht mehr als die Datenformate für den Export und Import von Daten aus und in das Arztinformationssystem. Daneben gebe es Anforderungskataloge für bestimmte neue Funktionalitäten, die die IT-Hersteller in der Software umsetzen müssten.

An wen die Daten übertragen würden, müssten die Vertragspartner in ihren Verträgen regeln. Aber auch beim Hausarztvertrag in Baden-Württemberg könnten die Softwarehäuser nur nachvollziehen, welche Daten in die Arztsoftware eingelesen und welche aus dem System exportiert würden.

Weigeldt stellt jedoch noch einmal klar, dass der "gekapselte Kern" die Kassen nicht in den Praxiscomputer schauen lasse. Bei Duria wird die neue gevko/KV-Telematik-Arge "sicherlich" zeitnah umgesetzt, bestätigt Gehlen.

Lesen Sie dazu auch: Kommt die Zwangs-IT bei Selektivverträgen?

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