Co-Abhängigkeit: Die verkannte Krankheit

Acht Millionen Co-Abhängige gibt es in Deutschland. Sie sind wie der kranke Partner im Strudel der Sucht. Die eigene Person tritt in den Hintergrund. Hier sind Hausärzte gefordert. In Gesprächen muss die Wahrnehmung wieder auf die eigene Person zurückgeführt werden.

Von Ursula Armstrong Veröffentlicht:
Am häufigsten sind Frauen von Co-Abhängigkeit betroffen, weil Suchterkrankungen hauptsächlich bei Männern vorkommen.

Am häufigsten sind Frauen von Co-Abhängigkeit betroffen, weil Suchterkrankungen hauptsächlich bei Männern vorkommen.

© Deklofenak / fotolia.com

Bei Patienten, die partout nicht über sich selbst sprechen, sondern nur über den Partner, die immer wieder zum Partner hin lenken, alles vom Partner abhängig machen und sogar Sätze sagen wie: "Wenn ich nicht da wäre, würde für meinen Partner die Welt zusammenbrechen", bei diesen Patienten sollten Hausärzte hellhörig werden.

Denn hier spricht alles für eine Co-Abhängigkeit. Dann sind Hausärzte gefordert, diese Patienten zu sich selbst zurückführen.

Angehörige von Abhängigen versuchen zu helfen

Co-Abhängigkeit ist ein Begriff aus dem Suchtbereich. Von der Sucht sind immer auch Menschen im Umfeld des Kranken betroffen. Deshalb wird von einem "Suchtsystem" gesprochen. Angehörige von Abhängigen versuchen zu helfen, zu beschützen, zu warnen, zu erklären und zu rechtfertigen.

Der abhängige Partner wird vor den Kindern und Nachbarn entschuldigt. Frauen von Alkoholikern denken sich Alibis aus für ihren Mann, zum Beispiel für den Arbeitgeber. Sie holen ihn abends aus der Kneipe ab, damit er nicht ganz versackt.

Kinder von Tabletten-süchtigen Müttern putzen, waschen, kochen und übernehmen die Erwachsenenfunktionen, damit die Familie funktioniert und zusammengehalten wird. Mütter bezahlen die Schulden von spielsüchtigen Kindern und nehmen einen Kredit nach dem anderen auf …

Aus Hilfsbereitschaft wird irgendwann Aggression

Co-Abhängige Verhaltensweisen seien nicht unbedingt pathologisch, so Professor Götz Mundle, Chefarzt der Oberbergklinik Berlin/Brandenburg in Wendisch Rietz. Es sei ganz normal, dass Menschen helfen und Kranke unterstützen wollen. Das sei gut gemeint, in diesen Fällen aber der falsche Weg, sagte der Psychiater und Psychotherapeut im Gespräch mit der "Ärzte Zeitung".

Co-Abhängige Angehörige sind wie der süchtige Partner "im Strudel der Krankheit". "Sie sind im Netz des anderen gefangen."

Wenn sich die Abhängigkeit zuspitzt, verändert sich analog auch die Ausprägung der Co-Abhängigkeit. Drei Phasen werden unterschieden. Nach der anfänglichen Entschuldigungs- und Beschützerphase kommt eine Kontrollphase. Alkohol wird weggeschüttet, Medikamente werden versteckt. Nach außen wird die Fassade aufrecht erhalten.

Das Verhalten sei von Bemühungen und Kontrolle geprägt im Sinne von "Wenn ich mir nur genügend Mühe gebe, werde ich die Situation in den Griff bekommen", heißt es in einer Broschüre des Blauen Kreuzes. Schließlich kippt die Situation, und es kommt zur Anklagephase: Der Abhängige wird zum Sündenbock. Drohungen, Aggressionen, Isolierung mit Ausgrenzung, Verachtung, Abwenden vom Betroffenen sind die Folgen.

Die Not führt oft zu Medikamentenmissbrauch

Häufig haben Co-Abhängige psy-chosomatische Symptome wie Kopf-schmerzen, Herzbeschwerden, Verspannungen oder Depressionen. Es kommt zu sozialen Veränderungen, da Außenkontakte aus Scham gemieden werden. Oft entwickeln die Angehörigen - um ihre Not zu kompensieren - einen Medikamenten- oder Nahrungsmittelmissbrauch, der ebenfalls zur Sucht werden kann.

Um die acht Millionen Co-Abhängige soll es in Deutschland geben, die allermeisten davon Frauen. Es gebe zwar keine genaue epidemiologische Untersuchung, dennoch halte er die Zahl für realistisch, sagte Mundle.

"Denn viele Menschen sind in solchen falsch verstandenen Beziehungsmustern gefangen." Frauen seien vor allem deshalb betroffen, weil Suchterkrankungen hauptsächlich bei Männern vorkommen. Es habe nichts damit zu tun, dass Frauen besonders zu einem Helfersyndrom tendieren. Das gebe es bei Männern genauso.

Mundle: "Der Mechanismus, der einer Co-Abhängigkeit zugrunde liegt, trifft beide Geschlechter gleich."

Hausärzte haben die Aufgabe, das Problem zu erkennen und anzusprechen

Hausärzte sind vor allem bei der Diagnose gefragt. Sie hätten die wichtige Aufgabe, das Problem bei Patienten zu erkennen und anzusprechen, sagt Mundle. Entscheidend sei, die Wahrnehmung zur eigenen Person zurückzuführen, denn im Laufe der Krankheit des Partners ist die eigene Person völlig in den Hintergrund geraten: "Wie geht es Ihnen in dieser Situation? Merken Sie, unter welchem Druck Sie stehen?"

Man müsse helfen, die eigenen Grenzen zu erkennen, so Mundle, das mangelnde Selbstwertgefühl, die Wut und die Ohnmacht. "Denn dahinter steckt immer Ohnmacht. Das ist identisch wie beim Abhängigen - beide sind der Krankheit ohnmächtig ausgeliefert."

Im Arztgespräch sollte die Situation analysiert werden, um klar zu machen, wie es wirklich um den co-abhängigen Patienten steht. Dabei gilt es, bei ihm zu bleiben und sich nicht verführen zu lassen, über den Abhängigen zu reden! Sätze wie "Ohne mich käme er gar nicht zurecht" müssen hinterfragt werden: "Stimmt das wirklich?"

Ambulante Psychotherapie kann nötig sein

Es muss eine Verantwortungsklärung herbeigeführt werden. Denn Co-Abhängige fühlen sich schuldig an der Krankheit und der Situation. Es muss besprochen werden, welche Unterstützung durch den Angehörigen wirklich sinnvoll ist und wobei der Kranke professionelle Hilfe braucht.

Bringt man Co-Abhängige dazu, die Situation, in der sie stecken, anzuerkennen und über sich zu sprechen, zeigt sich schnell eine starke Erschöpfung. Bei großer Betroffenheit kann eine ambulante Psychotherapie nötig sein.

Auch spezielle Selbsthilfegruppen für Co-Abhängige können helfen. Wo solche Kooperationspartner seien, sollten Hausärzte im Vorfeld klären und dann die Adressen parat haben, rät der Psychiater.

Co-Abhängige zu sich selbst zurückzuführen, sei ein schwieriger Prozess, aber der erste Schritt zur Therapie. Denn es sei wichtig, dass die Person selbst nicht untergehe und für sich gesund bleibe. Davon profitieren dann auch der kranke Partner und die ganze Familie.

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