Positionspapier

Ärzteverbände und Virologen legen gemeinsame Anti-Corona-Strategie vor

Vertragsärzte, Psychotherapeuten und renommierte Virologen haben ein gemeinsames Positionspapier verfasst mit Strategien, wie auf die steigenden Corona-Infektionszahlen reagiert werden könnte. Es ist eine Art Gegenentwurf zu den Plänen von Bund und Ländern.

Anno FrickeVon Anno Fricke Veröffentlicht:
Stopp, Corona! KBV und Virologen betonen, die Strategie bei der Bekämpfung der Coronavirus-Ausbreitung müsse geändert werden.

Stopp, Corona! KBV und Virologen betonen, die Strategie bei der Bekämpfung der Coronavirus-Ausbreitung müsse geändert werden.

© Thomas Reimer / stock.adobe.com

Berlin. Vertragsärzte, Psychotherapeuten und Wissenschaftler haben eine gemeinsame Position erarbeitet, wie auf die steigenden Corona-Infektionszahlen in Deutschland reagiert werden könnte. Im unmittelbaren Vorfeld von erneuten Beratungen von Bund und Ländern raten sie zu einer „Strategieanpassung“ und berufen sich auf den ärztlichen Grundsatz des „primum nihil nocere“. Dazu zählen:

  • die Abkehr von der Eindämmung der Infektionen mit dem neuartigen Coronavirus alleine durch die Kontaktnachverfolgung der Gesundheitsämter,
  • die Einführung eines Ampelsystems auf Bundes- und Kreisebene,
  • die Fokussierung der Ressourcen auf vulnerable Bevölkerungsgruppen
  • und eine Risikokommunikation, die auf Gebotskultur statt auf Verbotskultur setzt.

Neuer Tageshöchstwert an Infektionen

Unterzeichnet haben das Positionspapier die Virologen Professor Hendrik Streeck (Universität Bonn) und Professor Jonas Schmidt-Chanasit (Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin, Hamburg) sowie die Vorstandsvorsitzenden der Kassenärztlichen Bundesvereinigung. Die Liste der von der KBV aufgeführten Unterstützer ist dabei lang: insgesamt 35 ärztliche Verbände und Fachgesellschaften sind dabei, darunter DEGAM, Hausärzteverband, BVKJ, DPtV, SPiFa , SPiZ, NAV-Virchowbund und das Zi.

14.964 neue COVID-19-Erkrankte haben die Gesundheitsämter am Dienstag an das Robert-Koch-Institut gemeldet, ein neuer Tageshöchstwert. Insgesamt haben sich damit mindestens 464.000 Menschen mit SARS-CoV-2 infiziert, rund 330.000 gelten als bereits wieder genesen. Die Inzidenz liegt Stand Dienstag deutschlandweit bei 87 auf 100.000 Einwohner.

Keine wissenschaftliche Grundlage

Eine einheitliche wissenschaftliche Grundlage für die Bewertung des Pandemieverlaufs und die Ableitung von Maßnahmen aus diesen Zahlen gebe es nicht, mahnen die Autoren des Papiers, das der „Ärzte Zeitung“ vorliegt.

Sie gehen davon aus, dass die Nachverfolgung jedes einzelnen Kontakts eines Infizierten durch die Gesundheitsämter nicht mehr möglich sein wird. Infizierte selbst könnten ihre Kontakte schneller und zielgerichteter persönlich ansprechen.

Die Gesundheitsämter sollten stattdessen ihre Anstrengungen bei der Kontaktverfolgung priorisieren: zunächst auf Kontakte mit Bezug zum Gesundheits- und Pflegesystem, auf die Teilnahme an Partys („Super-Spreader-Events“) und auf die Nutzung der Warn-App.

Schutz von Risikogruppen unstrittig

Für die Autoren ist unstrittig, dass der Schutz von Risikogruppen im weiteren Verlauf der Pandemie ganz oben stehen müsse. Eine erneute Isolation der Bewohner von Alten- und Pflegeheimen dürfe daraus aber nicht entstehen.

Erforderlich seien Schnelltests für Besucher vor Betreten von Heimen und Krankenhäusern, regelmäßige Tests für das ärztliche, pflegerische und reinigende Personal, das Tragen von FFP2-Masken in diesen Einrichtungen und der Aufbau von Nachbarschaftshilfen für Menschen in Quarantäne. Die Autoren befürworten zudem die AHA-Regeln plus Lüften und das Nutzen der Corona-App.

Ein Ampelsystem müsse alle relevanten Kennzahlen enthalten wie die Infektionszahlen, die Anzahl von Tests sowie die stationären und intensivmedizinischen Behandlungskapazitäten. Wissenschaft, Gesundheitsbehörden und Verwaltungen verfügten über ausreichend Daten, anhand derer das Pandemiegeschehen regional verfolgt und eingeschätzt werden könne.

Das Positionspapier ist vollständig nachzulesen unter diesem Link auf den Seiten der KBV.

„Lockdown light“ in Planung

Am Mittwochnachmittag kommen Angela Merkel und die Regierungschefs der Länder per Videoschalte zusammen, um die Reaktionen auf die seit Tagen stark ansteigenden Infektionen zu beraten. Stand Dienstagabend ist geplant, Freizeiteinrichtungen und die Gastronomie ab dem 4. November vorübergehend zu schließen. Im Einzelhandel sollen sich nicht mehr als eine Person auf 25 Quadratmetern aufhalten.

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Die Menschen sollen aufgefordert werden, auf private Reisen zu verzichten. Für Risikogruppen solle es „zügig und prioritär“ Schnelltests geben. Medizinische Behandlungen und Physiotherapien sollen möglich bleiben. Von einer Schließung der Schulen und Kitas ist vorerst nicht die Rede.

KBV warnt vor „Reflexen“

Wieder auf Lockdown zu setzen könnte eine „reflexartige Konsequenz“ aus der Entwicklung sein, schreiben Wissenschaftler und KBV in dem Positionspapier. Den Rückgang der Fallzahlen einzuleiten, sei zwar eine politisch dringend gebotene Aufgabe, aber nicht um jeden Preis.

„Wir erleben bereits die Unterlassung anderer dringlicher medizinischer Behandlungen, ernstzunehmende Nebenwirkungen bei Kindern und Jugendlichen durch soziale Deprivation und Brüche in Bildungs- und Berufsausbildungsgängen (…), mahnen die Autoren des Papiers. Sobald sich Anordnungen als widersprüchlich, unlogisch und für den Einzelnen als nicht nachvollziehbar darstellten oder von Gerichten außer Kraft gesetzt würden, entstehe ein Glaubwürdigkeitsproblem, mahnen die Autoren.

Hygienekonzepte und Teststrategien untersuchen

Um im Frühjahr wieder Veranstaltungen zulassen zu können, schlagen Streeck, Schmidt-Chanasit und die KBV-Vertreter eine wissenschaftliche und von den Gesundheitsämtern begleitete Untersuchung von Veranstaltungen mit Hygienekonzepten und Teststrategien vor. Ziel sei herauszufinden, ob das Risiko einer Virusübertragung dabei überhaupt in relevantem Umfang bestehe.

Hintergrund der Überlegung ist, dass soziale Begegnungen in öffentlichen Räumen unter klar definierten Hygienekonzepten „gesellschaftlich und infektionsepidemiologisch“ besser seien als in weniger sicheren privaten Innenräumen.

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