Interview mit Ferdinand Gerlach

Versorgungsforschung: „Unser Labor ist die Praxis“

„Was der Virologe in der Petrischale oder im Reagenzglas beobachtet, das beobachten wir durch Versorgungsforschung und klinische Forschung unter Alltagsbedingungen in hausärztlichen Praxen“, sagt Professor Ferdinand Gerlach im Gespräch mit der „Ärzte Zeitung“ und fasst so die Aufgaben der geplanten Forschungspraxen-Netzwerke zusammen.

Raimund SchmidVon Raimund Schmid Veröffentlicht:
Will die Forschung in den Hausarztpraxen stärker vernetzen: Professor Ferdinand M. Gerlach.

Will die Forschung in den Hausarztpraxen stärker vernetzen: Professor Ferdinand M. Gerlach.

© ©Stiftung Gesundheitswissen

Ärzte Zeitung: Die Forschungspraxis im hausärztlichen ambulanten Bereich ist ja nicht neu. Jetzt planen sie aber mit den Forschungspraxen-Netzen in einer ganz anderen Größenordnung. Was genau haben Sie vor?

Professor Ferdinand M. Gerlach: Wir hatten bisher punktuell zum Beispiel in Frankfurt – nur mit Bordmitteln unterstützt – schon Forschungspraxen und auch Forschungspraxen-Netzwerke. Aber jetzt geht es darum, diese auf ein professionelles international konkurrenzfähiges Niveau zu heben und auch flächendeckend an mehreren Standorten in Deutschland aufzubauen.

Deshalb werden nun in allen bundesweit geplanten sechs transregionalen Forschungspraxen-Netzen Strukturen vor Ort etabliert, um die Netzwerke zu entwickeln. Zum Teil müssen diese – wie in Dresden – neu aufgebaut, zum Teil wie bei uns in Frankfurt erheblich ausgebaut werden. Und es wird erstmalig auch eine bundesweite Koordination geben. Dadurch können wir auf ein ganz anderes Qualitätsniveau als bislang kommen.

Was ist mit Blick auf die Zielgruppe Haus- und Allgemeinarzt das Besondere an diesen Praxisforschungs-Studien?

Ganz wichtig ist zunächst, dass alle Projekte zusammen mit den Hausärzten entwickelt werden. Hausarztpraxen, die bei uns mitmachen, sind aktiv beteiligt an der Entwicklung der Fragestellung, an der Durchführung der Studien und auch an der Interpretation der Ergebnisse und – das ist unser Ziel – an der Implementierung in den Praxisalltag unter Routinebedingungen. Bildlich gesprochen sagen wir immer „unser Labor ist die Praxis“. Was der Virologe in der Petrischale oder im Reagenzglas beobachtet, das beobachten wir durch Versorgungsforschung und klinische Forschung unter Alltagsbedingungen in hausärztlichen Praxen. Denn die Ergebnisse von klinischen Forschungsvorhaben in supramaximal spezialisierten Unikliniken können nicht ohne weiteres auf die Hausarztpraxis übertragen werden.

Gibt es ähnliche Ansätze auch schon in anderen Ländern?

Andere Länder sind da durchaus schon weiter. Führend sind insbesondere Großbritannien – und da vor allem Schottland –, aber auch die Niederlande. Dort sind bereits viele wichtige Erkenntnisse aus diesen Netzen hervorgegangen. Es wird daher Zeit, dass sich Deutschland jetzt auch auf den Weg macht.

Die Größe dieser geplanten Netzwerke ist sehr heterogen und reicht von 50 Forschungspraxen wie in Dresden bis hin zu 520 in verschiedenen Standorten in NRW. Warum sind diese Unterschiede so groß?

Es gab einen Wettbewerb um die Fördermittel, die das Bundesministerium für Bildung und Forschung ausgeschrieben hat, darum haben sich verschiedene Einzelstandorte oder Netze beworben. Wenn Sie zum Beispiel das Netzwerk in NRW betrachten, sind da die acht Standorte Aachen, Bochum, Bonn, Köln, Essen, Düsseldorf, Münster und Witten vertreten. Das ist dann ein landesweiter Zusammenschluss, so ähnlich ist es in auch in Bayern.

Derzeit ist geplant, dass in diesen sechs bundesweiten Netzen insgesamt mehr als 1700 Praxen aktiv werden sollen. Hierfür muss nun ein professionelles Gerüst aufgebaut werden. So sollen zum Beispiel in allen Forschungspraxen Medizinische Fachangestellte als „Study nurses“ geschult und qualifiziert werden. Sie sollen lernen, wie man klinische Studien durchführt, wie man Patienteneinwilligungen einholt, wie Studien im Detail ablaufen und wie sie dann letztlich ausgewertet werden. In der Zukunft wird zudem auch daran gedacht, dass es netzübergreifende Projekte gibt. Also dass zum Beispiel eine klinische Studie in mehreren, vielleicht sogar in allen sechs Netzen durchgeführt wird, je nachdem wie viel Praxen gebraucht werden. Das ist eine große Koordinationsaufgabe.

DESAM-ForNet

DESAM-ForNet ist die zentrale Anlauf- und Koordinierungsstelle für die Forschungspraxen-Netze in der Allgemeinmedizin in der Schumannstraße in Berlin. Dort ist mit Dr. Antje Fischer-Rosinský auch die Projektleitung angesiedelt. DESAM-ForNet ist eine Einrichtung der Deutschen Stiftung für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DESAM), der Prof. Ferdinand M. Gerlach aus Frankfurt vorsteht.

Die Stiftung, die seit den 70er Jahren existiert, ist eine Tochter der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM). Weiterer Bestandteil der zentralen Koordinierungsstelle ist neben der DESAM auch die Technologie und Methodenplattform für die vernetzte medizinische Forschung (TMF). Diese bildet die Brücke zwischen Praxisforschungs-Netzen und universitätsmedizinischer Forschung.

Ist das aber dann nicht in gewisser Weise ein Affront gegen die klinische Forschung?

Nein, das ist absolut kein Affront und auch kein Gegeneinander, sondern ein sehr konstruktives Miteinander. Wir in Frankfurt zum Beispiel kooperieren eng mit Onkologen oder Medizininformatikern. In Dresden gibt es eine Kooperation mit dem dortigen Koordinierungszentrum für klinische Studien. Wir kooperieren zudem mit der Abteilung für klinische Pharmakologie und Pharmako-Epidemiologie in Heidelberg und mit der Epidemiologie in Bochum.

Können Sie das an einem Beispiel deutlich machen?

Bei einem zweiten Projekt des Forschungsnetzwerkes Dresden-Frankfurt geht es um die Gewinnung von Daten zu Langzeitüberlebenden nach Krebs in der Hausarztpraxis und für Hausärzte notwendige Informationen nach Therapieende. Die Onkologen in der Uniklinik sehen den Patienten, wenn er akut erkrankt ist, sie behandeln ihn eine Weile und dann verlieren sie ihn nach Beendigung der Nachsorgeprogramme, in der Regel nach spätestens fünf Jahren, aus den Augen und können so die Spätfolgen ihres Handelns nicht mehr sehen.

Wir untersuchen jetzt, was zum Beispiel bei Kindern und Jugendlichen, oder auch bei anderen, die früher mal eine Krebserkrankung hatten, im Langzeitverlauf, nach 10 oder gar 20 Jahren passiert. Wir wissen inzwischen, dass viele Patienten, die Krebs überlebt haben, Langzeitfolgen haben, zum Beispiel Lungenfibrosen nach Bestrahlung oder auch chemotherapiebedingte späte Schäden am Herzen. Zudem gibt es eine ganze Menge von psychosozialen Folgen nach einer überstandenen Krebserkrankung, die zum Teil erst sehr viel später auftreten.

Wie hoch ist denn das Budget für das Forschungspraxen-Netzprojekt, das vom Ministerium zu Verfügung gestellt wird?

Für alle sechs Netze und die Berliner Koordinierungsstelle (DESAM-ForNet) liegen wir über fünf Jahre bei einem Finanzrahmen des Bundesforschungsministeriums von 15 bis 20 Millionen Euro.

Gibt es auch für die Forschungspraxen-Inhaber, die sich dann als Hausarzt beteiligen, einen finanziellen Anreiz?

Ja, durchaus. Die Praxen bekommen Aufwandsentschädigungen zum Beispiel für den Einsatz der MFA für die Studiendokumentation und so weiter. In der Regel ist das eine Mischung aus Grundpauschalen, wenn man bei so einer Studie mitmacht und patientenbezogenen Zahlungen in Abhängigkeit von der Zahl der eingeschlossenen Patienten und dem Aufwand, der mit der Studie verbunden ist. Also je nachdem, wie viel Dokumentation da zum Beispiel anfällt oder wie häufig ausführliche Interventionen oder Aufklärungsgespräche notwendig sind, gibt es eine Aufwandsentschädigung für den Praxisinhaber und für MFA. Diese ist nicht so hoch wie in manchen Studien der pharmazeutischen Industrie, aber mit 50 bis 200 Euro pro Patienten schon so ausgelegt, um die entstehenden Kosten decken zu können.

Professor Ferdinand Gerlach

  • Aktuelle Position: Seit 2004 Professor für Allgemeinmedizin und Direktor des Instituts für Allgemeinmedizin der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt/Main.
  • Karriere: 2010 bis 2016 Präsident der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM); seit 2007 Mitglied des Sachverständigenrats zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen, seit 2012 ist er Vorsitzender des Rats.
Mehr zum Thema

Medizinforschungsgesetz

Regierung: Ethikkommission beim Bund bleibt unabhängig

Das könnte Sie auch interessieren
Wie patientenzentriert ist unser Gesundheitssystem?

© Janssen-Cilag GmbH

Video

Wie patientenzentriert ist unser Gesundheitssystem?

Höhen- oder Sturzflug?

© oatawa / stock.adobe.com

Zukunft Gesundheitswesen

Höhen- oder Sturzflug?

Patientenzentrierte Versorgung dank ePA & Co?

© MQ-Illustrations / stock.adobe.com

Digitalisierung

Patientenzentrierte Versorgung dank ePA & Co?

Kommentare
Vorteile des Logins

Über unser kostenloses Login erhalten Ärzte und Ärztinnen sowie andere Mitarbeiter der Gesundheitsbranche Zugriff auf mehr Hintergründe, Interviews und Praxis-Tipps.

Haben Sie schon unsere Newsletter abonniert?

Von Diabetologie bis E-Health: Unsere praxisrelevanten Themen-Newsletter.

Das war der Tag: Der tägliche Nachrichtenüberblick mit den neuesten Infos aus Gesundheitspolitik, Medizin, Beruf und Praxis-/Klinikalltag.

Eil-Meldungen: Erhalten Sie die wichtigsten Nachrichten direkt zugestellt!

Newsletter bestellen »

Top-Meldungen

„ÄrzteTag“-Podcast

Was steckt hinter dem Alice-im-Wunderland-Syndrom, Dr. Jürgens?

Stabile Erkrankung über sechs Monate

Erste Erfolge mit CAR-T-Zelltherapien gegen Glioblastom

Lesetipps
Die Empfehlungen zur Erstlinientherapie eines Pankreaskarzinoms wurden um den Wirkstoff NALIRIFOX erweitert.

© Jo Panuwat D / stock.adobe.com

Umstellung auf Living Guideline

S3-Leitlinie zu Pankreaskrebs aktualisiert

Gefangen in der Gedankenspirale: Personen mit Depressionen und übertriebenen Ängsten profitieren von Entropie-steigernden Wirkstoffen wie Psychedelika.

© Jacqueline Weber / stock.adobe.com

Jahrestagung Amerikanische Neurologen

Eine Frage der Entropie: Wie Psychedelika bei Depressionen wirken