Gastbeitrag von Prof. Urban Wiesing

Wissenschaft in der Pandemie – und das große Missverständnis

Eine Pandemie einzudämmen, verlangt politische Entscheidungen auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse. Virologen können einen Lockdown empfehlen, doch ihn anzuordnen, obliegt allein Regierungen und Parlamenten. Wer das vermischt, missversteht die Wissenschaft.

Von Urban Wiesing Veröffentlicht:
Seit dem Ausbruch der Pandemie stehen Fachleute wie RKI-Chef Lothar Wieler (links) oder der Berliner Virologe Christian Drosten (Mitte) im Rampenlicht. Politiker, hier Gesundheitsminister Spahn (rechts), sollten deren Wissen nutzen, die eigene Verantwortung aber niemals auf die Wissenschaften abwälzen.

Seit dem Ausbruch der Pandemie stehen Fachleute wie RKI-Chef Lothar Wieler (links) oder der Berliner Virologe Christian Drosten (Mitte) im Rampenlicht. Politiker, hier Gesundheitsminister Spahn (rechts), sollten deren Wissen nutzen, die eigene Verantwortung aber niemals auf die Wissenschaften abwälzen.

© Jens Schicke / SZ Photo / picture alliance

In der Coronakrise erfahren die Wissenschaften, insbesondere Medizin und Biologie, ungeahnte Aufmerksamkeit und sehen sich mit höchsten Erwartungen konfrontiert. Sie mögen angesichts der dramatischen Ereignisse sagen, wie zu handeln sei, und sie mögen gar die Erlösung von der Pandemie entwickeln: die Impfung.

Während die Ratgeber in Pandemien früherer Jahrhunderte – die Priester – so gut wie gar nicht mehr in Erscheinung treten, sind die Wissenschaftler, insbesondere jene mit bio-medizinischem Hintergrund, derzeit gefragt wie nie zuvor.

Mit merkwürdigen Konsequenzen: Einerseits haben die Medien neue Wissenschaftsstars erschaffen, die in keiner Talkshow fehlen dürfen. Andererseits werden die bekannten Wissenschaftler auf den Demonstrationen der Corona-Leugner auch schon mal als Diktatoren verunglimpft. So gefragt sie bei manchen sind, so verhasst sind sie bei anderen.

Die unterschiedlichen Reaktionen legen nahe, das Verhältnis von Wissenschaft und Politik zu klären. Nun steht außer Zweifel, dass Wissenschaften in der Pandemie Wichtiges zu bieten haben, gleichwohl gilt es Klarheit zu schaffen und Grenzen aufzuzeigen, was Wissenschaften, auch die medizinische Wissenschaft, in dieser Situation leisten können und was nicht.

Präzises und überprüftes Wissen

Dazu muss man sich zunächst einmal auf theoretischer Ebene die Fähigkeiten von Wissenschaften vor Augen führen. Eine schlichte Beschreibung lautet: Sie können von Haus aus Wissen schaffen. Und zwar nicht irgendwelches Wissen, sondern präzises, überprüftes und überprüfbares, zuverlässiges Wissen mit transparenter Herkunft.

Prof. Dr. Urban Wiesing

Prof. Dr. Urban Wiesing

© Uniklinikum Tübingent / Verena Müller

Einem jedem muss es möglich sein, die Wege der Erkenntnis nachzuvollziehen, das Wissen zu kontrollieren und zu kritisieren. Die Medizin besitzt darüber hinaus einen Auftrag, bei dem sie dieses Wissen in praktischen Handlungen für ihre Ziele nutzt, nämlich kranken Menschen zu helfen.

Medizin und Biologie haben in der gegenwärtigen Pandemie wichtige Erkenntnisse über das Virus geliefert, die Medizin zudem über die Behandlung Infizierter. Keine anderen Institutionen hätten Vergleichbares liefern können.

Die Coronakrise wäre ohne medizinisches Wissen gar nicht frühzeitig erkannt worden. Lange bevor augenfällige Bilder von überfüllten Intensivstationen in Bergamo die letzten Zweifel an der Gefährdung beseitigten, haben Virologen die Pandemie beschrieben und prognostiziert, was uns drohte. Die ersten politischen Konsequenzen folgten einer Alarmierung anhand wissenschaftlicher Prognostik, nicht aufgrund unmittelbarer Leiderfahrungen.

Die Medizin kann die Gefahr durch das Virus identifizieren und Entwicklungen vorhersagen, aber sie kann nicht sagen, auf welchem politischen Wege man die Pandemie stoppen soll.

Prof. Dr. Dr. Urban Wiesing, Direktor des Internationalen Zentrums für Ethik in den Wissenschaften

Doch können Medizin und Biologie mehr liefern als verlässliche Beschreibungen der Pandemie, möglicher Gegenmaßnahmen und Behandlungen sowie Voraussagen zur zukünftigen Entwicklung? Vor allem: Was können sie bei politischen Entscheidungen?

Bereits vor 100Jahren hat Max Weber darauf verwiesen, dass Wissenschaften die Welt beschreiben, wie sie war, ist und sein wird, und zwar höchst erfolgreich. Sie können auch beschreiben, wie man die Welt verändern könnte – auch das machen sie höchst erfolgreich. Aber sie können als Wissenschaften streng genommen nicht sagen, ob man die Welt auch verändern soll. Als Wissenschaften können sie die Gültigkeit von Normen nicht festlegen. Dazu besitzen sie weder die moralische noch politische Autorität.

Konkret bedeutet das für die Coronakrise: Die Medizin kann die Gefahr durch das Virus identifizieren und weitere Entwicklungen vorhersagen. Sie kann auch die Auswirkungen möglicher Therapien prognostizieren, und sie soll ihre Patienten so gut wie möglich behandeln. Aber die Medizin kann nicht sagen, auf welchem politischen Wege man die Corona-Pandemie stoppen soll.

In dieser Hinsicht verbleiben ihr nur Wenn-Dann-Aussagen: Wenn man die Corona-Pandemie begrenzen will, weil es dafür sehr gute Gründe gibt, dann möge man bestimmte Entscheidungen treffen. Die Wissenschaften können in diesem Sinne den politischen Entscheidungsträgern Empfehlungen geben, die aber stets auf Voraussetzungen beruhen, deren Gültigkeit sie selbst nicht festlegen können.

Pragmatische Entscheidungen

Nun muss man allerdings davon ausgehen, dass die meisten Menschen derartig feinsinnige Unterscheidungen für akademisch überzogen, ja kleinkariert halten und auch nicht vornehmen werden. Daher werden viele Menschen sagen, die Politik möge doch bitte den Empfehlungen der Medizin folgen.

Das mag auch vernünftig sein. Jedoch gebietet die Klarheit der Argumentation, darauf hinzuweisen, dass die weitere Ausbreitung des Virus zu verhindern eine politische Entscheidung aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse ist, aber eben keine wissenschaftliche Entscheidung. Dies zu verkennen hätte unliebsame Konsequenzen. Denn ansonsten würde man eine szientistische Neutralisierung politischer Verantwortung befördern.

Die Entscheidungen der Parlamente oder Regierungen wären demnach keine politischen Entscheidungen, sondern Entscheidungen der nüchternen, objektiven Wissenschaft, denen man genau aus diesem Grunde auch nur folgen kann. Dem ist aber nicht so. Hier fiele einer Erkenntnisinstanz, in diesem Falle der medizinischen Wissenschaft, eine Rolle zu, die sie nicht erfüllen kann.

Ganz konkret: Ob eine Inzidenz von 50Ansteckungen oder von 75Ansteckungen pro 100.000Einwohner eine Region zum Risikogebiet macht, ist eine pragmatische, politische und eben keine medizinische Entscheidung! Ob man Restaurants schließen soll, weil man bei 75Prozent aller Infektionen die Ansteckungsquelle nicht mehr nachverfolgen kann, ist eine pragmatische, politische und eben keine medizinische Entscheidung!

Der bequeme Verweis auf die Virologie

Wer das nicht unterscheidet, läuft Gefahr, die Verantwortung von Institutionen zu vernebeln. Die Wissenschaften, auch die Medizin, sind keine Staatenlenker. Das sollte politische Institutionen keineswegs davon abhalten, sich bei den Wissenschaften zu informieren, im Gegenteil. Sie können gleichwohl ihre Verantwortung nicht auf die Wissenschaften abwälzen.

Wenn es zu katastrophalen Auswirkungen der Pandemie kommt, können die politisch verantwortlichen Institutionen auch nicht den Schwarzen Peter an die Wissenschaft weiterreichen. Sie könnten allenfalls die Wissenschaft für schlechte wissenschaftliche Arbeit verantwortlich machen, aber dafür haben sie derzeit wohl kaum Anhalt.

Soweit die Theorie, doch die Angelegenheit ist in der Praxis komplizierter. Denn mancherlei Interessen und Missverständnisse kommen ins Spiel. Fangen wir mit den Interessen an: Zahlreiche politische Entscheidungen in der Pandemie sind höchst unangenehm für die Betroffenen. Sie sind deswegen unpopulär. Die Politik hat naturgemäß ein Interesse daran darauf zu verweisen, dass unliebsame Maßnahmen aus der Virologie stammen.

Sie möchte ihren Maßnahmen zuweilen Alternativlosigkeit aufgrund medizinischer Erkenntnisse attestieren. Das soll die politischen Entscheidungsträger entlasten. Führt man sich die Unterschiede von Politik und Medizin jedoch vor Augen, wird sofort klar: Die zuständigen politischen Institutionen können sich nicht aus ihrer Verantwortung entlassen. Auch wenn die Virologie bestimmte Maßnahmen empfiehlt, verbleibt die politische Verantwortung für deren Realisierung bei den Verfassungsorganen.

Wissenschaft schwärmt nicht

Soweit die Interessen der Entscheidungsträger. Auf der anderen Seite darf man nicht außer Acht lassen, dass sich der eine oder andere Wissenschaftler gerne im Glanz der ihm plötzlich zugefallenen Bedeutung sonnt. Auch die Disziplinen, die Wissenschaften, haben durchaus ein Interesse an gesellschaftlicher Anerkennung – und auch an finanzieller Förderung. Da kommt mediale Aufmerksamkeit zuweilen ganz recht.

In diesen Situationen sind die Wissenschaftler zudem ganz bestimmten Erwartungen ausgesetzt. Medien sind bekanntermaßen an knappen, prägnanten Statements interessiert, die gerne auch mal provozieren dürfen, was der wissenschaftlichen Komplexität des Sachverhaltes häufig zuwiderläuft. Dennoch sollte man auch im Rampenlicht des öffentlichen Interesses den Prinzipien der Wissenschaft treu bleiben.

Freilich, die hohe Kunst, komplexe Informationen mediengerecht und trotzdem korrekt auf den Punkt zu bringen, beherrschen nicht alle. Zudem muss man als Wissenschaftler vor überhöhten Erwartungen warnen, was auch nicht immer gern gehört wird. Gleichwohl gilt auch hier: Skepsis und Kritik sind die Grundtugenden der Wissenschaften, nicht die schwärmerische Euphorie.

Wissen ist größer denn je und dennoch begrenzt

Das Verhältnis von Medizin und Politik ist zudem von einigen Missverständnissen geprägt. Das Wissen, das die Medizin angesammelt hat, ist immens groß, größer als je zuvor. Nur hat sich in der jetzigen Pandemie herausgestellt, was eigentlich immer gilt: Die wissenschaftlichen Erkenntnisse sind stets lückenhaft und können überdies zu wichtigen, sehr konkreten Fragen der Pandemie keine profunde Auskunft geben.

Allein deswegen, weil dazu häufig keine Erfahrungen oder Studien vorliegen. Woher auch, hat es viele Herausforderungen vorher doch gar nicht gegeben! Woher sollte man in der ersten Welle der COVID-19-Pandemie denn auch präzise wissen, wie sich das Virus in Schulen, Kitas und in der Oper verbreitet? Woher sollte man genau wissen, wie hoch die Ansteckungsquote mit SARS-CoV-2 in der Gastronomie ist? Das hatte niemand vorher untersucht, weil es auch gar nicht möglich war.

Man kann es der Medizin nicht vorwerfen, wenn sie in einer Pandemie aufgrund eines neuen Virus nicht alle Fragen beantworten kann. Es ist nun mal das Wesen von Forschung, dass sie Zeit braucht, wenn sie wirklich gut sein soll. Zum Verhältnis von Wissenschaft und Politik gehört aufseiten der Wissenschaft deshalb eine vollständige Transparenz der Erkenntnisse.

Auch wenn politische Institutionen noch so gerne präzise Auskünfte und Handlungsanleitungen wünschen – wenn es die nicht gibt, gebietet die wissenschaftliche Ehrlichkeit, das zu sagen. Deshalb konnten Mediziner in vielen Fällen in der Öffentlichkeit nur Einschätzungen abgeben, die sich an ihren früheren Erfahrungen orientierten, aber eben nicht auf aktuellen Studien beruhten. Diese Einschätzungen waren ungewiss, und sie haben sich zum Teil im Laufe der Pandemie geändert. Man denke an die wechselnden Einschätzungen, was der Mund-Nasen-Schutz tatsächlich bewirkt.

Dies wiederum stieß auf Unmut in der Politik, die ihre Strategie gefährdet sah, die jeweiligen Maßnahmen als unabänderliche wissenschaftliche Vorgaben zu deklarieren.

Und die Revision von Wissen war jenen, die die Pandemie oder deren Gefährlichkeit leugnen, eine willkommene Vorlage für ihre Ablehnung von Wissenschaft: Sie sei sich uneins und ändere zudem ständig ihre Meinung. Nicht zuletzt waren einige Medien enttäuscht, als es zu Revisionen des Wissens kam, weil es ihrer Strategie widersprach, die Heilserwartungen an die Wissenschaft zu betonen.

Erwartungen an die Medizin begrenzen

All diese Vorwürfe beruhen auf einem Missverständnis von Wissenschaft und sind ungerechtfertigt: Wer der Medizin vorwirft, einige Erkenntnisse in den letzten Monaten revidiert zu haben, hat Wissenschaft nicht verstanden.

Dass sich die Behandlung der COVID-19-Patienten im Laufe der letzten Monate geändert hat, ist kein Scheitern, sondern ein Lernen. Es ist zutiefst wissenschaftlich und eine Tugend dieser Disziplinen, dass sie ihre Erkenntnisse revidieren, wenn sie dazu sachlichen Anlass haben. Das ist keine Schwäche, sondern eine Stärke. Es mag Außenstehende verunsichern, aber Wissenschaft ist ein permanenter Prozess. Medizinisches Wissen ist nicht unfehlbar und nicht über jeden Zweifel erhaben; zudem wächst es ständig und erneuert sich – doch es bleibt dabei: Besseres haben wir nicht.

Erkenntnisse von Medizin und Biologie in der Pandemie zu nutzen, bedeutet nichts anderes, als den politischen Entscheidungen ein möglichst rationales Fundament zu geben. Sie sollen vernünftiges politisches Handeln ermöglichen. Doch politische Entscheidungen müssen eigenständig erfolgen, und sie haben einen anderen Charakter als wissenschaftliche Erkenntnisse.

Damit sei einer Beliebigkeit der politischen Entscheidungen keineswegs das Wort gesprochen. Es geht nur um klare Zuständigkeiten und politische Verantwortung. Für ein gedeihliches Verhältnis von Wissenschaft und Politik sind zudem die Erwartungen an die Medizin auf das zu begrenzen, was die Medizin kann, und die Wissenschaftler müssen den Versuchungen des Rampenlichtes widerstehen. Auch in der Kommunikation mit Politik und Öffentlichkeit darf die Medizin von ihren wissenschaftlichen Grundsätzen nicht abweichen.

Prof. Dr. Dr. Urban Wiesing ist Direktor des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin an der Universität Tübingen und Direktor des Internationalen Zentrums für Ethik in den Wissenschaften. Wiesing, 1958 in Ahlen geboren, studierte Medizin, Philosophie, Soziologie und Medizingeschichte in Münster und Berlin. Von 2004 bis 2013 war er Vorsitzender der Zentralen Ethik-Kommission bei der Bundesärztekammer, seit 2009 ist er Mitglied des Medical Ethics Committee des Weltärztebundes.

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