Von der Adipositas bis zur Phenylketonurie

Eine ernährungsmedizinisch ausgerichtete Hausarztpraxis hat Dr. Miriam Hein aufgebaut. Sie betreut nicht nur Patienten mit Übergewicht oder Diabetes mellitus, sondern auch solche mit seltenen Stoffwechselstörungen.

Von Anja Krüger Veröffentlicht:

Früher konnte ich mir nicht vorstellen, in einer Praxis zu arbeiten", sagt die 42-jährige Allgemeinärztin. Denn eigentlich wollte sie in der Forschung bleiben. Aber nach einigen Monaten in einer allgemeinmedizinischen Praxis war es um sie geschehen. "Da war für mich klar, dass ich nie wieder ins Krankenhaus zurückgehen würde". Die Ernährungsmedizin interessiert Miriam Hein seit ihrer Jugend. "Für mich stand immer fest, dass ich auf dem Gebiet der Ernährungsmedizin tätig sein will", erklärt die dreifache Mutter. Während des Studiums suchte sie gezielt nach Universitäten mit ernährungsmedizinischen Schwerpunkten und arbeitete an Forschungsprojekten in Berlin und Essen mit.

Im Jahr 2001 hat Hein die Praxis in der Gelsenkirchener Innenstadt übernommen und die Ernährungsmedizin zu einem Schwerpunkt gemacht. Die Ärztin betreut Patienten mit Adipositas, Diabetes mellitus, Stoffwechselstörungen, Laktoseintoleranz oder Reizdarm gemeinsam mit der Diätassistentin Miriam Gilbert. Zuerst hatte sie mit einer Oecotrophologin zusammengearbeitet. "Aber Oecotrophologie ist sehr wissenschaftlich ausgerichtet", sagt Hein. Dabei sei in der hausärztlichen Praxis gerade das Praktische von großer Bedeutung. "Hier geht es buchstäblich um die Frage, was in den Kochtopf gehört".

Heins großes Interesse an ernährungsmedizinischen Fragen ist kein Zufall. Sie leidet an Phenylketonurie (PKU). Aus eigener Erfahrung und langjähriger Arbeit in der Deutschen Interessengemeinschaft PKU und verwandte Stoffwechselstörungen (DIG-PKU), deren Vorsitzende sie ist, kennt Hein die Probleme der PKU-Patienten bestens. Jetzt plant sie ein spezielles Beratungsangebot in ihrer Praxis sowie die Gründung eines Gesprächskreises, in dem sich Patienten austauschen können. Außerdem will sie das Internet nutzen, um den Kontakt zu den Patienten zu halten. Geplant ist auch die Einrichtung eines Bereichs, über den Interessierte der Diätassistentin per E-Mail Fragen stellen können, die dann binnen eines Tages beantwortet werden.

Dabei ist das ernährungsmedizinische Angebot der Praxis bereits heute umfangreich. Die Arbeitsteilung zwischen Ärztin und Diätassistentin ist strikt: Kommen Patienten mit einem ernährungsbedingten Problem in die Praxis, ist die Ärztin für alle medizinischen Fragen und die Diagnostik zuständig, die Diätassistentin, die Hein 2007 eingestellt hat, für die Beratung.

"Es geht um die Frage, was in den Kochtopf gehört"

Viele Patienten kommen mit einer Diagnose von einem anderen Arzt - oder der festen Überzeugung, woher ihre Beschwerden kommen. Hein erstellt aber immer, basierend auf einer kompletten Anamnese, eine eigene Diagnose. Bei Bedarf stellt sie den Kontakt zur Diätassistentin her, die an drei Nachmittagen in der Woche in der Praxis ist. Wenn Miriam Gilbert keine Patienten berät, arbeitet sie an der Anmeldung. Das hat den Vorteil, dass viele Patienten sie kennen und Vertrauen zu ihr haben. Da fällt es leichter, in der Ernährungsberatung kleine Sünden zu beichten, berichtet Gilbert.

Für die Ernährungsberatung steht in der Praxis ein eigener Raum zu Verfügung. Auch die Diätassistentin macht mit den Patienten zunächst eine ausführliche Bestandsaufnahme. Sie fragt nach Beschwerden, Allergien oder anderen gesundheitlichen Störungen der Patienten oder bei deren Familienmitgliedern. "Oft haben die Beschwerden der Patienten einen psychischen Aspekt, etwa beim Reizdarm", berichtet Gilbert. In vielen Fällen helfen Zuhören und konkrete Tipps, etwa bei einem Reizdarm-Syndrom viel mehr Wasser als bisher zu trinken. Dem ersten Termin folgt mindestens ein zweiter. Denn Gilbert bittet alle Patienten, sieben Tage ein Ernährungsprotokoll zu führen. Die Auswertung dient dann als Grundlage für die Beratung. Je nach Jahreszeit führt Gilbert in der Woche zwischen drei und neun Einzelberatungen durch. "Nach Weihnachten und im Frühjahr ist die Nachfrage besonders groß", hat sie beobachtet.

Eine Club-Mitgliedschaft ergänzt das Kursangebot

Für adipöse Patienten bietet die Praxis Kurse mit maximal fünf Teilnehmern an. "Wir wollen, dass sich Patienten mit ähnlichen Problemen austauschen können", sagt Hein. Wer unter extremer Adipositas leide, habe einen anderen Leidensdruck als leicht Übergewichtige. Während der 12-wöchigen Kurse berichten Betroffene auch sehr vertrauliche Dinge, etwa aus ihrer Partnerschaft. "In einer großen Gruppe ist so etwas schwieriger", weiß Hein.

Bestandteil des Kurses ist neben der Vermittlung von Informationen, ein Ernährungs- und Bewegungsprotokoll zu führen. "Wir geben aber auch Hausaufgaben auf. Zum Beispiel sollen die Teilnehmer beim Einkaufen ein kalziumreiches Mineralwasser suchen", erklärt Gilbert. Wer den Kurs absolviert hat, kann einmal im Monat in den "Club" kommen und eine Körperfettmessung vornehmen lassen und sich Tipps holen. "Die Teilnehmer möchten zum Beispiel wissen, was sie bei der nächsten Grillparty essen können", berichtet Gilbert. Auch fürchten diese Patienten oft, wieder zuzunehmen.

Die Mitgliedschaft im Club ist für Kursteilnehmer gegen einen geringen Unkostenbeitrag möglich, die Teilnahme an dem Kurs kostet 150 Euro, wovon viele Krankenkassen die Hälfte übernehmen. Im strukturschwachen Ruhrgebiet beutelt die Wirtschaftskrise die Menschen zusätzlich. "Die Patienten sind nicht unbedingt liquide", stellt Hein fest. Doch gerade Arbeitslose leiden besonders häufig unter ernährungsbedingten Krankheiten wie Adipositas, weil sie sich wenig bewegen und oft ungesund ernähren. Hein nimmt mit ihrer Preisgestaltung Rücksicht auf die ökonomische Lage vieler Patienten. Für die erste Beratungsstunde müssen sie nichts zahlen, die folgende Stunde kostet 40 Euro, dann sind 25 Euro für jede weitere Einheit fällig. Einige Krankenkassen übernehmen hier ebenfalls die Kosten. "Es gibt Krankenkassen, die schicken ihre Leute zu uns. Aber die Patienten müssen das Geld vorstrecken. Für Empfänger von Hartz IV kann das hart sein", weiß Hein.

Anfangs reagierten die Kollegen in Heins Umgebung zurückhaltend auf ihr ernährungsmedizinisches Angebot. Das hat sich längst gelegt. Die Kollegen wissen, dass die Hausärztin die Patienten nicht abwirbt, sondern sie ausgestattet mit Informationen zum Ursprungsarzt zurückschickt. "Viele Ärzte sind froh, dass sie durch den Verweis auf unsere Praxis ihren Patienten eine ernährungsmedizinische Betreuung anbieten können".

STICHWORT

Phenylketonurie - Therapie ist die lebenslange Diät

Die häufigste angeborene Störung des Aminosäurenstoffwechsels ist die Phenylketonurie (PKU). In Deutschland liegt die Erkrankungsfrequenz bei ungefähr 1 : 6600. Durch Mangel oder Verlust eines Enzyms ist die Umwandlung von Phenylalanin (Phe) zu Tyrosin gestört. Folge sind abnorm hohe Phe-Spiegel im Blut. Diese können bei Kindern schwere Störungen der Gehirnentwicklung und bei Erwachsenen neurokognitive Beeinträchtigungen verursachen.

Die Betroffenen müssen lebenslang eine Phe-arme Diät einhalten. Neben berechneten Mengen Obst, Gemüse und Salat sind hier nur Phe-arme diätetische Lebensmittel geeignet, ergänzt durch eine Aminosäurenmischung. Die Patienten sollten durch eine individuelle Ernährungsberatung unterstützt werden.

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