Hoppe fordert Mut zum Tabubruch

Elf Milliarden Euro mehr für die Kassenmedizin, aber nicht genug, um alle Patienten gleichermaßen gut zu versorgen. Für Bundesärztekammer-Präsident Jörg-Dietrich Hoppe sind Prioritäten für die Versorgung nötig. Doch in der Debatte, die er bereits vor dem Ärztetag angestoßen hat, findet er außerhalb der Ärzteschaft keine Zustimmung.

Helmut LaschetVon Helmut Laschet Veröffentlicht:

MAINZ. Kurt Beck, der bei seinen Landsleuten populäre rheinland-pfälzische Ministerpräsident warnte die in der Landeshauptstadt seit gestern tagenden Delegierten des 112 Deutschen Ärztetages: "Lassen Sie die Übertreibungen!" Zu solchen Übertreibungen zählt Beck die Behauptung von der Rationierung. "Ich scheue das Wort Rationierung wie der Teufel das Weihwasser - im Zusammenhang mit Gesundheit ist das ein furchtbares Wort."

Ein warnendes Beispiel: Blüm und die sichere Rente

Beck, der zu Ärzten und ihren Organisationen in Rheinland-Pfalz traditionell ein enges, fast freundschaftliches Verhältnis pflegt, leistete schon zu Beginn des Ärztetages einen Beitrag zur Versachlichung des Auftakts, der bei vorangegangenen Ärztetagen oft die Emotionen bewegt hatte.

"Wir müssen sorgfältig aufeinander hören - und aufeinander zugehen", mahnte Beck nicht zuletzt auch Ärzte und ihre Organisationen, die angesichts so mancher deftig vorgetragener Proteste das Risiko eingehen, die Akzeptanz und auch das Verständnis für einen hoch angesehenen Berufsstand zu verspielen. Der Landeschef blieb allerdings nicht bei mahnenden Floskeln: Auf die Dauer brauche die ärztliche und medizinische Versorgung einen steigenden Anteil am Bruttoinlandsprodukt - "und das sage ich überall".

Die Entgegnung von Hoppe war ruhig, aber bestimmt: "Wir Ärzte wollen keine Rationierung, keine Streichung von medizinischen Leistungen - aber wir wollen auch nicht weiter für den staatlich verordneten Mangel in den Praxen und den Kliniken verantwortlich gemacht werden."

Das ist der Grund dafür, warum Hoppe glaubt, schmerzliche Wahrheiten benennen und Tabus brechen zu müssen: Das Tabu, das prinzipiell unbegrenzte Leistungsversprechen der Politik nicht in Frage zu stellen. Eine Provokation der Politik, damit die Farbe bekennen muss. Und den Anstoß für eine gesellschaftliche Debatte zu liefern.

Geblendet worden sei die Öffentlichkeit lange genug. Lebendiges Beispiel dafür ist Norbert Blüm, längjähriger Arbeitsminister unter Helmut Kohl, mit seiner Behauptung: "Die Rente ist sicher." Obwohl Experten schon damals gewusst hätten, dass dieses Versprechen unhaltbar ist.

Hoppe: "Wer sich heute wie damals Norbert Blüm hinstellt und behauptet, die umfassende Gesundheitsversorgung sei sicher, der sagt schlicht und einfach nicht die Wahrheit."

Deshalb müsse jetzt über unbequeme Wahrheiten geredet werden. Denn der richtige Umgang mit Mittelknappheit werde zweifellos zu einer der wichtigsten Herausforderungen für das deutsche Gesundheitswesen.

Seine Provokation, eine Priorisierungsdebatte auszulösen, sieht Hoppe durch die Thematisierung in etlichen Talkshows als gelungen an - inzwischen sei die Phase der öffentlichen Empörung und politischen Reflexe erreicht. Jetzt hoffe er auf wissenschaftliche Arbeit und fundierte Analyse, schließlich die Erarbeitung von Entscheidungsoptionen als Basis dafür, überhaupt in der Politik Bereitschaft für Entscheidungen zu erzeugen.

Priorisierungsmöglichkeiten sieht Hoppe in mehreren Dimensionen. Vertikal können Rangfolgen verschiedener medizinischer Verfahren gebildet werden. Derartige Entscheidungen trifft heute der Bundesausschuss, etwa bei der Aufnahme neuer Leistungen in den Leistungskatalog der GKV. Allerdings geht es dabei meist nur um Ja-Nein-Entscheidungen.

Schweden zeigt, dass Priorisierung funktioniert

Weitaus problematischer ist Hoppes Forderung nach horizontaler Priorisierung, eine Festlegung, welche Krankheiten (und davon betroffene Patienten) bevorzugt oder nachrangig oder gar nicht mehr zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung behandelt werden sollen.

Dass dies dennoch möglich ist und auch gesellschaftliche Akzeptanz finden kann, glaubt Hoppe aufgrund der Erfahrungen in Schweden. Nach 15 Jahre dauernder Diskussion hat der schwedische Reichstag vier Priorisierungsgruppen verabschiedet: vorrangig die Versorgung lebensbedrohlicher akuter Krankheiten und solcher, die ohne Therapie zu dauerhafter Invalidität führen, Prävention und Rehabilitation als zweite Priorität, an dritter Stelle weniger schwere akute und chronische Krankheiten sowie nachrangig die Versorgung aus anderen Gründen als Krankheit.

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