Interview

Geriater leben längst vor, was anderswo noch erlernt werden muss

Spezialisiert sein und doch dem ganzen Menschen zugewandt zu arbeiten, das funktioniert nur im Team. Nicht umsonst steht erstmals ein Geriater an der Spitze der DGIM. Denn Geriater leben längst vor, was anderswo noch erlernt werden muss. "Als Geriater bin ich so etwas wie ein Reisebegleiter für meine Patientinnen und Patienten, die zum Beispiel mit acht Diagnosen zu mir kommen", so Professor Cornel Sieber, Präsident des Internistenkongresses 2018, im Interview.

Dr. Thomas MeißnerVon Dr. Thomas Meißner Veröffentlicht:
Prof. Cornel Sieber: Aus medizinischer Sicht gibt es sogar Ähnlichkeiten zwischen alten Menschen sowie Kindern und Jugendlichen, nämlich die häufig atypische Präsentation der Erkrankungen.

Prof. Cornel Sieber: Aus medizinischer Sicht gibt es sogar Ähnlichkeiten zwischen alten Menschen sowie Kindern und Jugendlichen, nämlich die häufig atypische Präsentation der Erkrankungen.

© DGIM /photernity.de

Ärzte Zeitung: Herr Professor Sieber, mit Ihnen steht erstmals ein Geriater an der Spitze der DGIM. Wieso haben Sie sich als junger Arzt für diese Richtung entschieden?

Professor Cornel Sieber: Nach meinem Staatsexamen 1984 wollte ich eigentlich Pädiater werden. Allerdings bekam ich nach meinem Postdoc-Jahr in der damaligen Sandoz AG meine erste Stelle in der Geriatrie des heutigen Universitätsspitals Basel. Mir hat die Arbeit mit betagten Menschen sofort gut gefallen.

Es gibt aus medizinischer Sicht sogar Ähnlichkeiten zwischen alten Menschen sowie Kindern und Jugendlichen, nämlich die häufig atypische Präsentation der Erkrankungen. Die Arbeit ist immer organübergreifend, sowohl was körperliche wie auch psychosozialen Aspekte angeht.

Was hat der Kollegen- und Freundeskreis zu Ihrer Wahl gesagt?

Sieber: Dazu muss ich erwähnen, dass damals die Geriatrie in der Schweiz bereits mehr etabliert war als in Deutschland, und zwar auch im universitären Setting. Dennoch war und ist die Geriatrie bis heute im Fächerkanon nicht unbedingt das "Starfach". Ich war viele Jahre in der Gastroenterologie tätig. Als ich mich dann bewusst für die Geriatrie entschieden hatte, gab es durchaus einige Kollegen, bei denen das Kopfschütteln ausgelöst hat.

Zeigt der neue Stellenwert der Geriatrie, dass nach Jahrzehnten der Spezialisierung und Subspezialisierung in der Inneren Medizin heute der "ganze Mensch" und damit der Arzt als Generalist wieder en vogue ist?

Sieber: Das ist sicher so, und zwar, weil es aufgrund der demografischen Veränderungen notwendig ist. Bei Hochbetagten treten viele chronische Krankheiten parallel auf – das aber ist es nicht allein! Es braucht jemanden, der die Leitplanken vorgibt.

Als Geriater bin ich so etwas wie ein Reisebegleiter für meine Patientinnen und Patienten, die zum Beispiel mit acht Diagnosen zu mir kommen. Ich nehme eine Priorisierung vor, indem ich frage, was diesen Menschen am meisten stört. Ich versuche, zusammen mit meinem Team, das gesamte diagnostische und therapeutische Vorgehen anhand von patientenorientierten Ziel- und Zeitvorstellungen zu koordinieren.

Wie finden Sie eigentlich das Wort von der "Überalterung der Gesellschaft"?

Sieber: Das ist ein Unwort! Es ist ethisch abwertend zu sagen, es gäbe zu viele alte Menschen. Richtig ist: Wir haben zu wenige junge Menschen, man könnte es "Unterjüngung der Gesellschaft" nennen. Es ist doch schön, dass der Mensch hochbetagt werden kann. Das ist unter anderem auch ein Erfolg der modernen Medizin. Ich rede daher lieber von demografischer Chance.

Schließlich bringen alte Menschen ja auch etwas in die Gesellschaft ein, nämlich ihre Lebenserfahrung. Das wird häufig vergessen.

Ist die demografische Chance auch eine Chance für die Ärzteschaft?

Sieber: Wir üben unseren Beruf aus, weil Menschen krank werden. Mehr ältere Menschen, die multiple chronische Krankheiten haben, werden das Gesundheitswesen qualitativ wie quantitativ zunehmend fordern.

Mit der Evidenz-basierten Medizin stößt man bei hochaltrigen, multimorbiden Patienten an Grenzen. Kehren wir jetzt zur Eminenzbasierten Medizin zurück?

Sieber: Das wäre sicher falsch. Allerdings sehe ich die derzeitige Evidenz-basierte Medizin kritisch. Richtig ist, qualitativ hochwertige klinische Studien als Arbeitsgrundlage zu fordern. Diese sind jedoch nicht das einzige Standbein der Evidenz-basierten Medizin! Schon David Sackett, einer der Pioniere der EBM, sagte, dass die ärztliche Erfahrung sowie die Präferenzen der Patienten einbezogen werden müssten. Was wir brauchen, ist eine Readjustierung der EBM auf diese drei Pfeiler.

Es ist doch klar: Wenn Sie es bei einem Patienten mit acht Diagnosen zu tun haben, und meine Patienten in der Akutgeriatrie sind im Mittel 84 Jahre alt, dann können Sie nicht acht allein auf klinischen Studien basierende Leitlinien Eins zu Eins anwenden. Damit würde ich diesem kranken Menschen mehr schaden als nützen! Ich frage also: Was stört den Patienten am meisten? Was erwartet er von mir? Dann kommen Erkenntnisse aus Studien und die Erfahrung des Arztes hinzu, um schließlich eine Lösung anzubieten.

Hochaltrige Patienten sind in klinischen Studien unterrepräsentiert. Sind klinisch aussagekräftige Studien bei alten Menschen überhaupt möglich?

Sieber: Sie sind möglich, aber sie sind vergleichsweise komplexer. Die Ausfallquote wird in solchen Studien naturgemäß höher sein als bei jüngeren Studienkohorten – nicht wegen mangelnder Studienadhärenz, die ist nach meiner Erfahrung sehr hoch, sondern krankheitsbedingt.

Wir brauchen solche Studien, denn wir setzen Medikamente bei Hochbetagten vielfach ein, ohne dass sie in dieser Altersgruppe getestet worden sind. Die European Medicines Agency (EMA) befürwortet solche Studien und bezeichnet sie als wichtig, ausdrücklich gefordert, wie in der Kinder- und Jugendmedizin, werden sie leider noch nicht.

Was macht einen guten Geriater aus?

Sieber: Unter anderem das Gespräch mit dem Patienten. Als junger Arzt mag man vielleicht nicht glauben, dass die Anamnese viel bringt. Später erkennt man: Sie macht zwei Drittel der Diagnose aus. Hinzu kommt die klinische Untersuchung. Die Berührung des kranken Menschen ist etwas ungemein Wichtiges in der Arzt-Patienten-Beziehung. Als ich in England tätig war, hat mein Chef gesagt: "Internal medicine is high tech, geriatric medicine is high touch."

Herr Professor Sieber, ein Jahreskongress ist ja nicht nur dafür da, medizinische Wahrheiten zu verkünden, sondern auch, um Kontroversen zuzulassen. Welche Themen sind es aus Ihrer Sicht, die derzeit besonders der Debatte bedürfen?

Sieber: Vor allem mit den "Kontrovers aber fair" sowie den Pro- und Kontra-Sitzungen bieten wir Gelegenheit, diverse medizinische und gesundheitspolitische Themen intensiv zu diskutieren. Wir müssen uns darüber verständigen, wie wir damit umgehen wollen, dass wir es mit immer mehr älteren Menschen mit vielen chronischen Krankheiten zu tun haben und wie wir das auf die einzelnen Schwerpunkte in der Inneren Medizin und andere Fächer verteilen. Da spielt die komplette Diagnostik hinein.

Wir benötigen Antworten auf den massiven Pflegemangel, teils auch Ärztemangel und auf die Frage, wie wir die hohe Qualität der medizinischen Versorgung in Deutschland halten können. Dazu müssen wir uns für neue Versorgungsmodelle öffnen. Die Versorgungsforschung wird daher ein zunehmend wichtiges Feld, zumal wir Daten aus dem Ausland nicht 1:1 auf hiesige Verhältnisse übertragen können.

Unsere "Klug entscheiden"-Kampagne läuft seit einigen Jahren und wird weiterentwickelt, auch hier wird es immer unterschiedliche Meinungen zu dem einen oder anderen Punkt geben. Die Zusammenarbeit mit anderen Fächern wie der Chirurgie oder der Neurologie ist im Zuge der zunehmenden Lebenserwartung in der Bevölkerung eine große Herausforderung, allein wenn wir daran denken, dass etwa 30 Prozent der zu betreuenden Menschen über 85 Jahre kognitiv eingeschränkt sind.

Ihre Amtsvorgängerin, Frau Professor Schumm-Draeger, hatte im vergangenen Jahr die Ökonomisierung der Medizin zu einem Hauptthema gemacht...

Sieber: Mich interessiert in diesem Zusammenhang zum Beispiel, wie wir den Weiterbildungsassistenten eigentlich noch das gesamte Spektrum der Inneren Medizin bieten können. Die ökonomisierte Orientierung der gesamten Gesundheitsversorgung bringt es unter anderem mit sich, dass bestimmte diagnostische und therapeutische Prozeduren im Krankenhaus gar nicht mehr abgebildet werden. Daher müssen wir es schaffen, die Weiterbildungs-Curricula stationär und ambulant stärker zu vernetzen. Der im vergangenen Jahr vorgestellte "Klinik Codex" wird am Samstag ebenfalls in zwei Symposien mit anschließenden Podiumsdiskussionen besprochen. Ziel der DGIM ist es, Ärzte dabei zu unterstützten, trotz des Ökonomisierungsdrucks nach ethischen Maßstäben zu arbeiten.

Professor Cornel Sieber

» Position: Vorsitzender der DGIM 2017/18, Chefarzt der Klinik für Allgemeine Innere Medizin und Geriatrie am Krankenhaus der Barmherzigen Brüder in Regensburg, Lehrstuhl für Innere Medizin und Geriatrie an der Universität Erlangen-Nürnberg, Direktor des Instituts für Biomedizin des Alterns, Nürnberg

» Werdegang: Medizinstudium, Weiterbildung Innere Medizin mit den Schwerpunkten Gastroenterologie und Geriatrie in Basel und Genf, 1990 – 1992 Forschungsaufenthalt an der Yale University Connecticut/USA, später Oberarzt am Universitätsspital Basel und Leitender Arzt der Geriatrischen Klinik am Universitätsklinikum Genf; seit 2001 Lehrstuhl an der Universität Erlangen-Nürnberg

» Engagement: 2005 – 2008 Präsident der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie, 2010 – 2012 Präsident der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin (DGEM), seit 2015 Vorstandsmitglied der DGIM, Mitglied der Ständigen Kommission "Demographischer Wandel" der Leopoldina.

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