„Das ,Kunstwerk Mensch‘ sprengt häufig den aktuellen DRG-Rahmen“

Als Geriater rückt Professor Cornel Sieber Multimorbidität und Polypharmazie in den Fokus. Das „Kunstwerk Mensch“ sprenge oft den aktuellen DRG-Rahmen, so Sieber, die Domänen der Funktionalität und damit sozialer Teilhabe sollten mehr berücksichtigt werden. Wir dokumentieren Auszüge seiner Rede, die uns vorab vorlag.

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Geriater und Alternsforscher: Professor Cornel Sieber. C. Sieber

Geriater und Alternsforscher: Professor Cornel Sieber. C. Sieber

© Cornel Sieber

(...) Vor Kurzem wurde in einem Artikel der New York Times ein Kommentar zur subjektiv empfundenen Lage der Medizin von Dr. Bernard Lown gedruckt. Er, den wir alle aufgrund seiner Einteilung der Herzrhythmusstörungen kennen, ist nun 96-jährig und war wegen einer Pneumonie in Boston im Krankenhaus. Er meinte mit Distanz und Altersweisheit: „Healing is replaced with treating, caring is surplanted by managing, and the art of listening is taken over by technological procedures (New York Times, 27. Februar 2018).

Ja, Fallpauschalen pauschalisieren den Menschen zur homogenen Größe und machen ihn zum Fall, der gemanagt und gelöst werden will. Wenn aber der Homo sapiens so einfach erklärbar wäre, wo bliebe dann der homo ludens oder gar die Vita contemplativa, die unser Leben erst lebenswert macht. Es geht bei Gesundheit immer auch um eine Art Innere Ruhe, die es physisch und psychisch zu wahren gilt.

Multimorbidität: Unser täglich Brot!

Heute wissen wir: Erst das Zusammenspiel aller Organe, auch die der uns umgebenden Schutzhülle Haut, garantiert Gesundheit oder unser subjektiv empfundenes Wohlsein. Richtig herausfordernd wird es daher, wenn mehrere Organe gleichzeitig akut oder auch chronisch in ihrer Funktion beeinträchtigt sind. In einer alternden Gesellschaft ist dies immer mehr der Fall, und der Umgang mit Multimorbidität ist somit unser täglich Brot.

(...) Zwei Drittel der Generation 80plus schätzt die eigene Gesundheit gut bis ausgezeichnet ein – und dies trotz Multimorbidität. Das chronologische Alter ist allgemein nicht mehr so wichtig. So werden das Alter und speziell das Altern differenzierter und damit auch individueller. Im englischen Sprachgebrauch spricht man deshalb häufig vom „fluid life“, was heißt: Der betagte Mensch lernt plastisch bis ins hohe Alter, er wird zu einem Experten im Umgang mit Defiziten, zu einem „homo compensator“!

„Medizin für den ganzen Menschen“

(...) Unsere erfreuliche Zunahme der Lebenserwartung verdanken wir zu einem substantiellen Teil dem bio-medizinischen Fortschritt in all seinen Schattierungen. Der Inneren Medizin als „Medizin für den ganzen Menschen“ kommt hierbei eine zentrale Rolle zu. Dennoch: Ein Tribut muss dafür meist bezahlt werden. Es ist dies das Vorhandensein chronischer Krankheiten, meist in einer Multiplizität. Die Multimorbidität und damit verbunden meist Polypharmazie ist denn quasi das Grundrauschen für uns Internisten bei der Betreuung älterer Menschen, auf das sich dann interkurrent akute Erkrankungen addieren.

Im Studium lernen wir eine organ-zentrierte, defizit-orientiere Medizin: Umgang mit Multimorbidität überschreitet aber fast obligat die Organgrenzen. (...) Bei der Betreuung betagter und noch mehr hochbetagter Menschen geht es vielmehr um eine Art Mustererkennung, von Cluster-Bildungen schon während der Planung der Diagnostik, erst recht beim Implementieren der Therapie. Doch dem nicht genug: Nebst den mehr auf die Physis konzentrierten „Behandlungspfaden“ addieren sich die Psyche und das soziale Umfeld bei den meist vulnerablen älteren bis sehr alten Menschen.

(...) Neben der Evidenz-basierten Medizin braucht es (...) einen guten Schuss relevanz-basierter Medizin. Und hier sind die Bedürfnisse der älteren Menschen klar zu erfragen. Sie können diese meist sehr gut benennen, und sie haben mit Funktionalität und Selbstständigkeit zu tun. Präferenzen im Alter ändern sich auch und erlauben eine gewisse Freiheit des Handelns. Ältere Menschen haben häufig andere Zeit- und Zielperspektiven als Jüngere, die es zu akzeptieren gilt. Selbstgewählte Limitierung und damit Mäßigung ist bisweilen auch ein Akt des Widerstandes, sowohl für uns wie für die von uns betreuten meist älteren Menschen.

(...) Ja, die Innere Medizin ist umfassend und damit für den ganzen Menschen da. Sie ist auch „Sektoren-übergreifend“. Mein Wunsch als Geriater wäre, dass die Vernetzung zwischen den verschiedenen Strukturen, wo immer mehr betagte bis hochbetagte multimorbide Menschen betreut werden, fluider werden und nicht zu Grenzziehungen führen. Segmentierte Angebots- und Finanzierungssysteme müssten dafür verhindert und vermehrt abgebaut werden. Hier kann die digitale Revolution sicher helfen, aber sie soll Angebote hin zum Patienten bieten – und nicht umgekehrt.

(...) Obgleich die Signatur unseres Zeitalters die Ungewissheit ist, gilt es diese in der Arbeit als Internisten abzubauen. Der Umgang mit Komplexität verlangt nach austarierten Strukturen, in denen die Akteure das Gleichgewicht zwischen Mut und Demut beherrschen. Die Demut meint hier, geduldig zu sein und zu akzeptieren, nicht immer gleich Alles machen zu wollen.

Nur nach Leitlinien zu arbeiten bei parallel durchschnittlich acht Krankheiten lässt die traditionellen Leitlinien oder Leitplanken brüchig werden, die Orientierung schwindet. Es tut dann gut, den Patienten zu fragen, was ihn am meisten belastet. Daraus gilt es dann – bildlich gesprochen – „un tableau“ der Diagnostik und Therapie zu entwickeln, das meist sehr individuell und alles andere als farblos daher kommt.

Wie passt das in ein DRG-System?

Ja, Sie werden sich sicher fragen, wie sich dies in ein DRG-System pressen lässt. Nun, ohne hier der Situation schuldend unangepasste Kritik zu äußern (das verbietet des Schweizers Höflichkeit): Das „Kunstwerk Mensch“ sprengt häufig den aktuellen DRG-Rahmen.

Dies wäre denn auch mein (...) Desiderat: Dass wir nebst der Konzentration auf Diagnosen, abgebildet im ICD-System (International Classification of Disease), vermehrt die Domänen der Funktionalität und damit sozialer Teilhabe berücksichtigen, wie sie das ICF-System (International Classification of Functioning, Disability and Health) aufzeigt. Fragen der Funktionalität und der sozialen Teilhabe sollten wir stärker in die Versorgungstrukturen und die Refinanzierung einbringen wollen.

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