Vision-Zero in der Onkologie

„Wir müssen jeden Stein umdrehen!“

Professor Christof von Kalle, Leiter des Klinischen Studienzentrums von Berlin Institute of Health und Charité, will sämtliche Routinen in der Onkologie auf den Prüfstand stellen, um die Zahl der krebsbedingten Todesfälle drastisch zu senken. Inhaltliche Unterstützung kommt dazu mittlerweile auch aus der nationalen und europäischen Politik.

Von Günter Löffelmann Veröffentlicht:
Professor Christof von Kalle, Leiter des Klinischen Studienzentrums von Berlin Institute of Health und Charité.

Professor Christof von Kalle, Leiter des Klinischen Studienzentrums von Berlin Institute of Health und Charité.

© NCT/Philip Benjamin

Ärzte Zeitung: Herr Professor von Kalle, das diesjährige Symposium „Innovations in Oncology“ am 26. Juni in Berlin steht unter dem Motto „Vision-Zero“. Was genau verbirgt sich dahinter?

Professor Christof von Kalle: Die Vision-Zero, wie wir sie für die Onkologie etablieren möchten, hat ihr Vorbild im Straßenverkehr.

Anfang der 1970er Jahre hat Schweden ein neues Denken angestoßen, wonach erstens jeder Unfalltote einer zu viel ist und zweitens Unfälle häufig auf bestimmte Umstände zurückzuführen sind und nicht in erster Linie auf individuelles menschliches Versagen. Ziel dieses Paradigmenwechsels war es, die Zahl der Todesfälle im Straßenverkehr gegen Null zu bringen.

In der Folge wurde ein umfangreiches Handlungskonzept mit aktiven und passiven Sicherheitsmaßnahmen entwickelt und in den meisten europäischen Ländern umgesetzt. Der Erfolg dieser Vision-Zero im Straßenverkehr ist extrem beeindruckend: Die Todesfallrate konnte seit den 1970er Jahren in Europa um bis zu 90 Prozent gesenkt werden, obgleich der Verkehr von Jahr zu Jahr stark zugenommen hat.

Ein vergleichbares Denken wollen wir nun auch für die Onkologie etablieren, und Handlungskonzepte entwerfen, um die Zahl der krebsbedingten Todesfälle ebenfalls gegen Null zu bringen.

Warum kommt diese Vision-Zero zum jetzigen Zeitpunkt?

von Kalle: Hintergrund sind im Wesentlichen die raschen Fortschritte, die wir in den vergangenen Jahren gemacht haben, speziell im Bereich der molekularen Verfahren, der Digitalisierung sowie bei therapeutischen Ansätzen. Sie erlauben es, Diagnosen früher und mit größerer Treffsicherheit zu stellen, und die Therapien besser auf den einzelnen Patienten zuzuschneiden.

Bislang haben wir es allerdings nicht geschafft, das Potenzial der neuen Entwicklungen auszuschöpfen. Das heißt, wir müssen uns jetzt die Frage stellen, wo im System Barrieren vorhanden sind, und was wir tun müssen, um die Versorgung von Krebspatienten quantitativ und qualitativ zu verbessern.

An welche konkrete Schritte denken Sie denn, um die Vision-Zero zu erreichen?

von Kalle: Zunächst einmal müssen wir zu einem Konsens gelangen, dass der jetzige Zustand unhaltbar ist und wir eine Änderung anstreben. Dann müssen wir auf dem Weg zur Vision-Zero wirklich jeden Stein umdrehen, das heißt, die Stellschrauben identifizieren, an denen wir drehen müssen, um dem Ziel näher zu kommen.

Es wird nicht die eine geniale Lösung geben, dazu ist die Onkologie heute viel zu komplex. Vielmehr müssen wir wie in anderen hochkomplexen Bereichen – beispielsweise im Straßenverkehr, in der Luftfahrt oder auch bei der Betriebssicherheit – ein Wissen generierendes System etablieren.

Es muss aus wissenschaftlichen Daten und aus Erfahrungen lernen, es muss erkennen, warum etwas funktioniert oder auch nicht funktioniert, es muss in der Lage sein, im Einzelfall das allgemeine Prinzip zu erkennen und laufend Möglichkeiten zur Verbesserung identifizieren.

Stattdessen verharren wir seit Jahren in einem status quo, trauen uns nicht, zu investieren, und finanzieren mit einem stagnierenden Budgetrahmen die immer gleichen Dinge. Der Aufwand, den wir für die Vorbeugung oder die Früherkennung von Krebserkrankungen betreiben, ist viel zu gering.

Die Diagnostik hat im onkologischen Budgetrahmen praktisch keinen eigenen Platz, und im Verhältnis dazu werden therapeutische Verfahren überbewertet. Und in der Datenverarbeitung sind wir in vielen Bereichen auf dem Niveau des 20. Jahrhunderts stehen geblieben.

Einer der Schlüsselbegriffe, die einem im Zusammenhang mit einer modernen Onkologie immer wieder begegnen, ist die Vernetzung. Was verspricht man sich von ihr?

von Kalle: Wie wir heute wissen, sind Krebserkrankungen – sogar innerhalb eines Organs und bei vergleichbarem klinischem Bild – äußerst heterogen. In der Diagnostik und in der Therapie müssen wir dieser Heterogenität Rechnung tragen, was uns dank innovativer Verfahren auch immer besser gelingt. Damit geht jedoch einher, dass wir es mit immer differenzierteren und zahlenmäßig immer kleineren Untergruppen von Patienten zu tun haben.

Dadurch ist die Onkologie so komplex geworden, dass für sich allein stehende Institutionen das ganze Aufgabenspektrum nicht mehr bewältigen können, seien es Forschungseinrichtungen, Universitätskliniken oder Pharma-Unternehmen. Die Lösung für dieses Problem ist die Vernetzung zu Strukturen, in denen jede Institution ihr Wissen und ihr Know-how einbringt, um die Onkologie insgesamt voranzubringen.

Ein weiteres Problem besteht darin, neue Entwicklungen in die klinische Routine zu überführen. Innovationen benötigen derzeit 15 Jahre bis zur Marktreife und 25 Jahre bis sie im hintersten Winkel der Republik angekommen sind. Wenn man sich diese Zahlen anschaut, dann hat man das Gefühl, das müsste doch schneller zu schaffen sein.

Sie sind seit kurzem Gründungsdirektor und Vorstand des gemeinsamen klinischen Studienzentrums des Berlin Institute of Health BIH und der Charité – Universitätsmedizin Berlin. Was darf sich die Onkologie von diesem Zentrum erhoffen?

von Kalle: ... dass ich die Onkologie als ein Beispiel der vielfältigen Entwicklungen sehe. Ich bin ja für die Plattform zur translationalen Aktivität in allen Fachbereichen zuständig, und sollte vielleicht den Eindruck vermeiden, ich interessierte mich nur für die Onkologie.

Die Charité verfügt über sehr viele Fachbereiche mit sehr vielen unterschiedlichen Expertisen. Das gemeinsame klinische Studienzentrum soll eine Plattform sein, die translationalen Aktivitäten der Zentren und Arbeitsgruppen programmatisch zu koordinieren und den Austausch zu fördern. Ich bin dabei für alle Fachgruppen zuständig und freue mich sehr auf dieses breite Spektrum.

Wenn wir auf die Onkologie blicken, so gibt es dort sehr interessante Aktivitäten beispielsweise im Bereich der molekularbiologischen Diagnostik an Einzelzellen. Wir möchten die Plattform nutzen, um dieses hochinnovative Verfahren frühzeitig in klinische Studien zu bringen.

Dies ist nur ein Beispiel von vielen, wie das gemeinsame Studienzentrum von BIH und Charité die Onkologie voranbringen können. Ein weiteres Ziel ist es, an der Charité ein Comprehensive Cancer Center mit gefördertem Forschungsanteil zu schaffen. Abgesehen davon eröffnet die gemeinsame Plattform die Möglichkeit, über den Tellerrand zu schauen und von den Erfahrungen anderer Fachbereiche zu profitieren.

Wie werden Sie persönlich sich dort einbringen?

von Kalle: Ich werde zum einen beratend tätig sein, zum anderen verfolge ich auch eigene wissenschaftliche Projekte, insbesondere zur Digitalisierung und Personalisierung in der Medizin. Es sind diese Aufbausituationen, die ich sehr schätze, und die mir sehr viel Spaß machen.

Worauf beruhen Ihre Hoffnungen für die nächsten Jahre?

von Kalle: Mir macht Hoffnung, dass sich offensichtlich auch die Politik zu bewegen beginnt.

So hat das Gesundheitsministerium begonnen, einige entscheidende Elemente anzuschieben, etwa im Bereich der Grundlagen zur Digitalisierung und zur Finanzierung, Initiativen zur Prävention und Früherkennung werden hoffentlich folgen.

Und auch auf der europäischen Ebene tut sich was. Dort hat die Fraktion der Europäischen Volkspartei EVP ein Strategiepapier zur Bekämpfung von Krebs vorgelegt. Ziel ist es, dass – so wörtlich – in zwanzig Jahren niemand mehr an Krebs sterben muss. Dazu fordert die EVP, die Budgets für die Krebsforschung deutlich zu erhöhen, eHealth-Technologien und Prävention zu fördern und europäische Krebsregister einzurichten.

Das heißt, es gibt eine gemeinsame Schnittmenge zwischen unserem Konzept von der Vision-Zero und politischen Forderungen auf nationaler und europäischer Ebene. Ich würde mich sehr freuen, wenn es uns gelingt, etwas in Deutschland anzustoßen, das dann auch im europäischen Raum auf fruchtbaren Boden fällt. Was von Schweden ausgehend im Straßenverkehr funktioniert hat, kann meines Erachtens auch von Deutschland ausgehend in der Onkologie funktionieren.

Im Juni 2019 hat Prof. Christof von Kalle die Professur auf Lebenszeit für Klinisch-Translationale Wissenschaften am Berlin Institute of Health (BIH) und der Charité – Universitätsmedizin Berlin angetreten. Er wird als Gründungsdirektor und BIH Chair das gemeinsame Klinische Studienzentrum von BIH und Charité leiten. Christof von Kalle hat in Heidelberg das Nationale Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) als Gründungsdirektor aufgebaut und über zehn Jahre geleitet.

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