Unerwünschte Arzneimittelereignisse

Interdisziplinär gegen Risiken der Polypharmazie

Stürze, Schwindel, Inkontinenz: Unerwünschte Arzneimittelereignisse bei Senioren stellen viele Pflegeeinrichtungen vor Probleme. Abhilfe schaffen will ein neues Projekt unter Federführung der AOK Nordost. Pflegeprofis, Ärzte und Apotheker arbeiten dabei eng zusammen. Auf dem Pflegetag in Berlin wird das Modell vorgestellt.

Thomas HommelVon Thomas Hommel Veröffentlicht:
Eine Pflegerin erklärt einem Heimbewohner die Medikamenteneinnahme. Nicht selten nehmen Senioren täglich fünf oder mehr Arzneien ein.

Eine Pflegerin erklärt einem Heimbewohner die Medikamenteneinnahme. Nicht selten nehmen Senioren täglich fünf oder mehr Arzneien ein.

© AOK-Mediendienst

BERLIN. Mit dem Alter steigt oft auch die Zahl der benötigten Arzneimittel. So nimmt laut einer Umfrage der Stiftung Warentest gut die Hälfte der über 60-Jährigen in Deutschland am Tag zwei bis fünf Medikamente gleichzeitig ein, fast jeder Fünfte sogar fünf Tabletten oder mehr. Mitunter ist das ein Segen, denn Arzneimittel können ein längeres Leben ermöglichen. Nicht selten birgt die Polypharmazie aber auch Risiken.

Schwindel, Stürze, Inkontinenz: Die Liste der unerwünschten Arzneimittelereignisse (UAE) bei älteren Menschen ist lang – und für viele Pflegeeinrichtungen ein Thema. So werden laut einer Studie für das Bundesgesundheitsministerium in Einrichtungen mit durchschnittlich 100 Heimbewohnern monatlich acht unerwünschte Arzneimittelereignisse gezählt. Auf ganz Deutschland hochgerechnet wären das rund 700.000 Fälle im Jahr.

Rund 250.000 Klinikeinweisungen

Dadurch entstehen erhebliche Probleme und Folgekosten, denn nicht wenige der Bewohner müssen ins Krankenhaus. Rund 250.000 Klinikeinweisungen jährlich, so die Bundesregierung in einer Antwort auf eine Anfrage der FDP-Fraktion, seien auf Erkrankungen durch Multimedikation zurückzuführen. Tendenz: steigend.

Experten gehen jedoch davon aus, dass sich etwa zwei Drittel der unerwünschten Arzneimittelereignisse vermeiden oder abmildern ließen. Hier setzt das Projekt "Optimierte Arzneimittelversorgung für pflegebedürftige geriatrische Patienten" (OAV) an, dessen Vorläufer die AOK Nordost mit der Gesellschaft für Geriatrische Pharmazie (Gero PharmCare) bereits in mehreren Schritten in Berlin und Brandenburg getestet hat. In Kürze soll das Projekt in Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Nordrhein-Westfalen starten.

Der beim Gemeinsamen Bundesausschuss angesiedelte Innovationsfonds fördert das Modell, das die Gesundheitskasse gemeinsam mit der Gero PharmCare GmbH, der IKK Brandenburg und Berlin, der VIACTIV-Krankenkasse, der Universität Witten/Herdecke, der TU Berlin sowie der Apothekerkammer Nordrhein umsetzt. Für drei Jahre stehen rund 6,6 Millionen Euro bereit.

Risikoscreening schützt Patienten

Kern der OAV ist ein lernfähiges Risikomanagementsystem. Es soll dazu beitragen, die Neben- und Wechselwirkungen von Arzneimitteln nach dem Leitgedanken der Geriatrie "So wenig wie möglich, so viel wie nötig" messbar und deutlich zu senken. Interdisziplinäre Teams – bestehend aus Ärzten, Apothekern, geriatrischen Pharmazeuten sowie Pflegefachkräften – begleiten die Patienten, tauschen sich in Fallkonferenzen aus und überprüfen regelmäßig, ob die Medikation geändert werden muss. "Diagnose, veränderte Medikamente und alles, was die Patienten vielleicht noch nebenher einnehmen, wird erfasst und dokumentiert", sagt die Projektleiterin Jacqueline Fahrentholz, AOK Nordost.

Auf dieser Basis erfolgt ein elektronisches Risikoscreening – und zwar mithilfe eines klinisch evaluierten Systems. "In der Regel besteht bei etwa 30 Prozent der Bewohner einer Einrichtung eine Auffälligkeit", weiß Fahrentholz. In diesen Fällen schaue sich der Apotheker die "arzneimittelbezogenen Risikoprofile" genau an und mache Vorschläge für eine Therapieänderung. "Auf dieser Basis entscheidet dann der Arzt, ob er seine Verordnung ändert", berichtet sie weiter.

Pflegekräfte zusätzlich geschult

Eine wichtige Rolle im Konzept der OAV spielen die Pflegefachkräfte, die dafür eigens geschult werden. Sie beobachten und schätzen ein, wie sich die Therapie auf den Patienten auswirkt und geben ihre Erkenntnisse an Apotheker und Ärzte weiter. "Wenn es Alarmsignale gibt, erfährt der behandelnde Arzt davon und kann darauf reagieren", fasst die Projektleiterin Fahrentholz die Vorteile der interdisziplinären Kooperation zusammen.

Dr. Frank Hanke, Geschäftsführer der Gero PharmCare GmbH, die das Projekt konzipierte, spricht sogar "von einer neuen Kultur der Zusammenarbeit und gegenseitigen Zuhörens" (siehe auch Interview auf dieser Seite). Und genau das mache den Unterschied zwischen interdisziplinärem und multiprofessionellem Arbeiten aus "Interdisziplinär heißt: Ich weiß um die Sichtweisen der anderen Professionen und nicht nur meine eigene. Und wir lernen voneinander", sagt Hanke.

Deshalb würden die am OAV-Projekt beteiligten Pflegefachkräfte, Apotheker und Ärzte vor Ort eine duale betriebliche Ausbildung mit Hochschulanteilen der praktischen Geriatrie durchlaufen. Geplant sei das Modell für 96 Pflegeheime und ambulante Pflegedienste mit insgesamt 4800 Patienten.

Weitere Informationen unter: www.oav-geriatrie.de

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