Zeit für den Abschied nehmen sich nur wenige

Eckhard Nagel ist ein Überflieger. Der 43 Jahre alte Arzt hat in vier Ländern studiert, wurde in zwei Fächern promoviert (Medizin und Philosophie), in der Medizin habilitiert, lehrt als Professor in Bayreuth, leitet dort das Institut für Medizinmanagement und Gesundheitswissenschaften und das Transplantationszentrum am Klinikum Augsburg.

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Zudem ist er stellvertretender Vorsitzender des Nationalen Ethikrates, gehört der Rürup-Kommission an, sitzt in der zentralen Ethikkommission der Bundesärztekammer, ist einer der drei Präsidenten des Deutschen Evangelischen Kirchentages und hat eine Familie mit drei Töchtern. Eines seiner beruflichen Anliegen ist ein offenerer Umgang mit dem Thema Transplantation und Sterben, wie er im Gespräch mit Polly Schmincke sagt.

Ärzte Zeitung: Herr Nagel, Sie arbeiten als Transplantationschirurg in Augsburg. Tragen Sie selbst immer einen Organspendeausweis mit sich?

Professor Eckhard Nagel: Jein. Ich habe zwar seit Jahrzehnten einen solchen Ausweis, aber in wechselnden Ausführungen. Als ich anfing in der Transplantationschirurgie, war mir ganz wichtig, daß, wenn mir was passiert, nur ein bestimmter Chirurg, ein Freund von mir, meine Organe entnehmen und weitergeben sollte.

Ich dachte, das ist für mich ein Stück besserer Abschied. Und ich wollte, daß mit meinen Organen sehr sorgsam und pfleglich umgegangen wird. Jetzt steht auf meinem Ausweis die Bedingung, daß meine Frau dabei sein soll bei einer Organentnahme, wenn irgend möglich. Für mich ist Tod auch nicht gleich Tod; es gibt durchaus unterschiedliche Vorstellungen davon, wie man sich von einem Leben in ein weiteres Leben verabschiedet. Da finde ich es gut, begleitet zu sein.

Ärzte Zeitung: Viele Eltern, die der Organentnahme bei ihren verunglückten Kinder zugestimmt haben, bereuen es später und haben Schuldgefühle. Warum?

Nagel: Ich glaube, das liegt daran, daß man sich vorher nicht vorstellen kann, wie es sich hinterher anfühlt. Es würde die Sache sehr erleichtern, gerade für Eltern, wenn sie an diesem Prozeß beteiligt würden. Natürlich kann man nicht jedem zumuten, bei der Operation zuzuschauen. Aber beim Reinfahren in den OP zum Beispiel könnten sie dabei sein. Oder man könnte den Kopf während der Operation halten - mit Sichtschutz.

Ärzte Zeitung: Was wäre damit zu erreichen?

Nagel: Der wichtige Punkt dabei ist, auf Rituale des Abschieds zurückzukommen. Diese Rituale fehlen uns nicht nur in der Organtransplantation, sondern generell. Leider verabschieden sich - unabhängig von einer Organspende - immer weniger Menschen von Sterbenden oder Verstorbenen. Früher war es ganz normal, daß man eine Weile am offenen Sarg stand, oder daß jemand, der zu Hause gestorben war, noch ein oder zwei Tage dort liegen blieb. So etwas gibt es gar nicht mehr. Und es gibt auch nicht mehr den Zwischenschritt, daß jemand, wenn sein Mann oder seine Frau gestorben ist, sagt, so, ich verweile jetzt noch mal eine Zeit - eine Abschiedszeit - neben dem Bett. Das nehmen viele nicht mehr wahr und sagen, nein, das kann ich jetzt nicht mehr.

Ärzte Zeitung: Warum nicht?

Nagel: Viele haben Angst. Und wenn sie nicht begleitet werden dabei, und es keine Rituale dafür gibt, dann verabschieden sie sich nicht. Und das ist hinterher meines Erachtens oft eine enorme Belastung für die Zurückgebliebenen. Allein die Frage nach einer Organspende ist schon eine enorme zusätzliche Belastung. Darum plädiere ich sehr dafür, daß man sich vorher Gedanken macht, bevor die akute Situation eintritt.

Ärzte Zeitung: Warum werden die Menschen nicht darauf vorbereitet?

Nagel: Weil das Thema wesentlich schwieriger zu "bewerben" ist als andere Dinge in der Medizin. Die Anti-Aids-Kampagne etwa begegnet mir überall, und sie ist ja auch erfolgreich. Die Organspende dagegen taucht selten auf, auch die Frage nach Patientenverfügungen. Alles, was mit unserem Tod zu tun hat, ist einfach nicht präsent. Selbst wenn die Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung dazu arbeitet, wird es nicht wahrgenommen.

Den meisten fehlt die Bereitschaft, sich mit dem Thema zu beschäftigen. Kollegen wollten mal in einer großen Ladenpassage eine Kampagne organisieren, einen Tag der Organspende. Die Reaktion der Händler: "Oh ne! Das Thema ist zu negativ besetzt. Unsere Kunden wollen nichts Negatives hören." Organspende ist offenbar viel unpopulärer, als ich dachte. Man denkt oft, das ist selbstverständlich, aber die Realität sieht anders aus.

Ärzte Zeitung: Noch heute haben viele Leute ein Problem mit der Vorstellung, nach ihrem Tod ihr Herz zu spenden, weil sie in diesem Organ ihre Seele vermuten.

Nagel: Ja, diese Mystifizierung gibt es häufig. Ich finde es manchmal ganz spannend, mit Christen über die Auferstehung zu reden, wie sie sich das vorstellen. Manche haben wirklich die Vorstellung, daß sie so, wie sie dir jetzt gegenübersitzen, im Paradies wieder stehen. Da wollen sie natürlich ihre Organe behalten, damit ihnen dort nichts fehlt.

Darüber muß man wirklich sprechen, denn so ist das natürlich theologisch nie gemeint gewesen. Aber diese Gespräche finden heute leider nicht statt, und darum bleibt es auf so einer mystischen, emotionalen und angstbesetzten Schiene stecken.

Ärzte Zeitung: Was machen Sie als Leiter des Transplantationszentrums in Augsburg, um den Umgang mit Organspenden zu verbessern?

Nagel: Wir haben eine Arbeitsgruppe in der Klinik gebildet, die auch über Abschiedsrituale nachdenkt.

Wir haben zum Beispiel in diesem Jahr erstmalig einen Tag der Organspende organisiert, wo es im Wesentlichen um die Angehörigen von Organspendern ging. Wir haben etwa einen gemeinschaftlichen Gottesdienst gefeiert mit diesen Angehörigen und Transplantierten, um beiden zu gedenken, um an die Spender zu erinnern, aber auch, um der Freude und dem Dank derjenigen Raum zu geben, die ein neues Organ bekommen haben. Wir wollen damit auch den Angehörigen die Möglichkeit geben, die Menschen kennen zu lernen, die mit einem gespendeten Organ weiterleben.

In dieser Richtung möchten wir weiterarbeiten und Rituale entwickeln, die auf der einen Seite dem Empfinden nach Pietät genügen, auf der anderen Seite Menschen die Möglichkeit geben, anders als in der Distanz mit der Situation des Todes, des Sterbens und der Organspende umzugehen. Dazu bedarf es zuerst einmal die Erfahrung derjenigen Menschen, die diese Situation durchgemacht haben. So bildet sich ein Kreis von Menschen, die miteinander reden. Da sind zum Beispiel die Klinikpfarrer und Pastorinnen, betroffene Ärzte und auch Krankenschwestern und -pfleger dabei.

Ärzte Zeitung: Was bedeutet so eine Organspende für das Pflegepersonal?

Nagel: Für die Krankenschwestern kann es emotional sehr schwierig sein. Sie müssen einen Menschen, der bereits hirntot ist, bis zur Organentnahme oft über einen als lang empfundenen Zeitraum weiter pflegen, obwohl sich eigentlich alle schon von dem Gestorbenen verabschiedet haben.

Ärzte Zeitung: Eine Mutter klagt auf einer Website von Organspendekritikern das Recht auf einen natürlichen Tod ein - können Sie damit etwas anfangen?

Nagel: Nein. Es gibt genauso wenig ein Recht auf einen natürlichen Tod, wie ein Recht auf einen Tod ohne Schmerzen. Den Begriff des "natürlichen" Todes verstehe ich schon gar nicht. Der Tod ist grundlegender Bestandteil unseres Lebens, gehört also zur Natur unserer Existenz. Wie wir sterben, liegt nicht in unserer Hand. Richtig ist, daß der Schritt der Organentnahme besonders bedacht sein muß, besonders begründet, aber er stellt keine "unnatürliche Handlung dar.

Auch zur Feststellung der Todesursache ist manchmal eine pathologische Sektion notwendig. Aus solchen Sektionen lernt die Medizin seit Jahrhunderten viel über die menschlichen Organe, über die Entstehung von Krankheiten. Das ist ja keine Verstümmelung von Verstorbenen, sondern entspricht unserem heutigen Umgang mit dem menschlichen Körper, in aller Rücksichtnahme.

Natürlich irritiert das Thema alle, die so etwas noch nie gesehen haben, noch nie damit zu tun hatten. Aber auch eine einfache Blinddarmentfernung kann jemandem, der das Umfeld des Operationssaales nicht kennt, verunsichern. Medizinstudenten kollabieren oft bei ihrer ersten Operationsassistenz, aber das ist nichts Unnatürliches. Unbekanntes, Unvertrautes und damit Erschreckendes gehört von jeher zu unserem Dasein.

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