Therapie im hohen Alter

Oft die falschen Medikamente im Einsatz

Vier von fünf hochbetagten Patienten werden nicht adäquat behandelt: Mehr als die Hälfte erhalten laut Studie die falschen Medikamente - mit zum Teil gravierenden Folgen.

Von Thomas Müller Veröffentlicht:

NEU-ISENBURG. Die Therapie alter Menschen ist sicher eine Herausforderung: Viele benötigen fünf oder mehr Wirkstoffe, und von Hausärzten wird erwartet, dass sie diese altersgerecht dosieren und zugleich diverse Wechsel- und Nebenwirkungen kennen. Ärzte sind dabei wohl eher vorsichtig – lieber ein Medikament zu wenig als eines zu viel, lautet offenbar die Devise.

Glaubt man belgischen Pharmakologen um Dr. Maarten Wauters von der Universität in Gent, ist dies jedoch der falsche Weg: Verzichten Ärzte auf eine wichtige Medizin, scheint das alten Patienten mehr zu schaden, als wenn sie ein unpassendes Präparat verordnen.

Diesen Schluss legen Ergebnisse der prospektiven Kohortenstudie Belfrail-Med nahe, an der sich 503 Patienten im Alter von mehr als 80 Jahren sowie deren Hausärzte beteiligten (British Journal of Clinical Pharmacology 2016; doi: 10.1111/bcp.13055).

Alle Patienten waren zunächst frei von Demenz und wurden nicht palliativ versorgt. Die Hausärzte lieferten den Forschern eine Reihe von Daten und detaillierte digitale Angaben zur Medikation. Mit dem "Screening Tool for Older Person's Prescriptions (STOPP-2)" ließ sich daraus ein falscher Gebrauch von Medikamenten und mit dem "Screening Tool to Alert doctors to Right Treatment (START-2)" ein Arzneimangel feststellen.

Angaben fehlen oft

Die START-Kriterien umfassen 34 Punkte. Davon konnten die Studienautoren jedoch nur 13 verwenden, so fehlten oft Angaben zur vorherigen Medikation oder zur Dauer der Medikation. Zu den berücksichtigten Punkten zählten etwa die Antikoagulation mit Vitamin-K-Antagonisten oder neuen oralen Antikoagulanzien bei Vorhofflimmern, Plättchenhemmer und Statine bei einer bekannten Herzkreislauferkrankung, ACE-Hemmer bei systolischer Herzinsuffizienz und/oder KHK, Betablocker bei ischämischer Herzerkrankung, aber auch die Folsäuresupplementierung bei einer Methotrexattherapie und die Behandlung mit krankheitsmodifizierenden Präparaten bei einer aktiven, behindernden RA.

Von den 81 STOPP-Kriterien ließen sich nur 46 zur Analyse der vorhandenen Daten anwenden. Dazu zählten eine Therapie mit zwei verschiedenen Medikamenten aus derselben Wirkstoffgruppe, Betablocker in Kombination mit Verapamil oder Diltiazem, Schleifendiuretika zur Blutdrucksenkung bei Harninkontinenz, PDE-5-Hemmer bei schwerer Herzinsuffizienz mit niedrigem Blutdruck oder gleichzeitiger Nitrattherapie, tägliche ASS-Dosen über 160 mg, NSAR zusammen mit Antikoagulanzien, Trizyklika bei Demenz oder Prostatabeschwerden sowie eine Benzodiazepinbehandlung über vier Wochen hinweg.

Die Patienten waren im Schnitt 84 Jahre alt und zu 61 Prozent weiblich. Sie erhielten zu Beginn im Mittel 5,4 Medikamente, am häufigsten gegen Bluthochdruck, gefolgt von Arthrose und Hyperlipidämie. 86 Prozent erhielten Arzneien gegen kardiovaskuläre, jeweils 55 Prozent gegen hämatologische und neurologisch-psychiatrische Beschwerden. 58 Prozent wurden polypharmakologisch behandelt (mindestens fünf Arzneien).

40 Prozent unter- oder fehlversorgt

Wie sich zeigte, erzielten die Ärzte nur bei 17 Prozent eine adäquate Behandlung – hier traf keines der verwendeten START- und STOPP-Kriterien zu. Einen falschen Gebrauch von Arzneien nach den STOPP-Kriterien stellte das Team um Wauters bei 56 Prozent der Patienten fest.

Noch häufiger fehlten den Patienten jedoch wichtige Medikamente – das war bei 67 Prozent der Fall. Bei 40 Prozent der Patienten beobachteten die Pharmakologen sowohl eine Fehl- als auch eine Unterversorgung. Am häufigsten fehlten ACE-Hemmer bei systolischer Herzinsuffizienz. Dies betraf 26 Prozent der Patienten.

Ähnlich oft mangelte es an Plättchenhemmern zur kardiovaskulären Therapie (24 Prozent); Statine wurden 15 Prozent der Patienten vorenthalten. An der Fehlversorgung hatten Benzodiazepinverordnungen über vier Wochen hinweg den größten Anteil (35 Prozent), gefolgt von der Behandlung mit mehreren Substanzen aus derselben Wirkstoffklasse (13 Prozent). Generell galt, je mehr Medikamente ein Patienten bekam, umso häufiger wurden Fehl- und Unterversorgung festgestellt.

Reverse Kausalität?

Für die restliche Lebenszeit der Patienten scheint nach diesen Resultaten vor allem die Unterversorgung kritisch zu sein – sie geht mit einer deutlich erhöhten Mortalitätsrate einher, nicht jedoch die Fehlversorgung. So waren 18 Monate nach der Aufnahme in die Studie knapp neun Prozent der Patienten gestorben – davon rund die Hälfte an vaskulären Erkrankungen.

Von den Patienten ohne Unterversorgung starben drei Prozent, hingegen waren es zwölf Prozent, wenn drei oder mehr Arzneien fehlten. Bei den Hospitalisierungsraten nach einem Jahr ergaben sich noch dramatischere Unterschiede: Nur 15 Prozent ohne Unterversorgung mussten in eine Klinik, aber 41 Prozent derjenigen, denen drei oder mehr Medikamente vorenthalten wurden.

Solche Patienten haben nach den Berechnungen der Forscher um Wauters ein zwei- bis dreifach höheres Risiko, innerhalb eines bestimmten Zeitraums zu sterben oder in eine Klinik aufgenommen zu werden, als solche mit adäquater Versorgung.

Allerdings sollten diese Ergebnisse mit Vorsicht interpretiert werden. Zwar haben die Studienleiter zu Beginn Patienten mit Palliativversorgung ausgeschlossen, es kann aber gut sein, dass vor allem sehr gebrechliche Personen nicht mehr leitliniengerecht behandelt wurden. Den baldigen Tod vor Augen, wollten ihnen die Ärzte vielleicht die eine oder andere Nebenwirkung ersparen, oder sie sahen bei solchen Patienten keinen großen Sinn mehr in kardiovaskulären Präventionsmaßnahmen.

Möglicherweise führt also nicht die fehlende Medikation zum vorzeitigen Tod, sondern das anstehende Lebensende zur Reduktion der Medikation. Was eher zutrifft, lässt sich anhand dieser Daten jedoch nicht erkennen.

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