HINTERGRUND

Hirnstimulation für psychisch Kranke? Das ist kein Tabu mehr

Philipp Grätzel von GrätzVon Philipp Grätzel von Grätz Veröffentlicht:

Bei der Behandlung von Parkinson-Patienten mit schwerem Tremor und Dyskinesien sind mit der Tiefenhirnstimulation (THS) überraschende Erfolge erzielt worden. Kein Wunder, daß sich auch Psychiater zunehmend für das neuroinvasive Verfahren interessieren. Intensiv diskutiert wird die THS derzeit vor allem bei schweren Depressionen und Zwangserkrankungen.

Bei der THS werden pathophysiologisch relevante Hirnareale mit 1,3 Millimeter dicken Elektroden stimuliert, und zwar durch eine Art Schrittmacher. "Anders als in der Neurologie geht es in der Psychiatrie nicht so sehr um eine Aktivierung oder Deaktivierung bestimmter Areale, sondern eher um eine Modulation von neuronalen Erregungsmustern." Das hat Professor Thomas Schläpfer von der Klinik für Psychiatrie der Universität Bonn berichtet. Neue Daten dazu hat er jetzt auf dem Psychiatrie-Kongreß in Berlin vorgestellt.

Nur wenige Kliniken testen THS bisher bei psychisch Kranken

Zusammen mit Kollegen der Universität Köln haben die Bonner in den letzten zwei Jahren erste Erfahrungen mit THS bei Patienten mit Zwangserkrankungen und schwerer Depression gesammelt. Deutschland ist hier weit vorn mit dabei: Es gibt weltweit nur eine Handvoll Arbeitsgruppen, die die THS bei psychischen Erkrankungen testen.

Zielstruktur für die Elektrostimulation bei den beiden in Deutschland laufenden Studien ist der Nucleus accumbens, ein neuronaler Kern im limbischen System. Über dessen Nervenzellen laufen Hirnimpulse, die für das Empfinden von Freude oder Belohnung wichtig sind. Sowohl bei schwerer Depression als auch bei Zwangserkrankungen ist dieses System gestört.

Professor Jochen Klosterkötter von der Klinik für Psychiatrie der Universität Köln koordiniert eine Doppelblindstudie im Crossover-Design, bei der insgesamt sechzehn Patienten mit schweren Zwangserkrankungen über zwei Jahre per THS behandelt werden. Am Anfang wird der Stimulator für drei Monate aus- oder angeschaltet, ohne daß Ärzte oder Patienten wissen, welcher Modus gerade vorliegt. Nach drei Monaten wird gewechselt, bevor dann nach weiteren drei Monaten bei allen Patienten der Stimulator eingeschaltet wird.

Zwangssymptome lassen sich deutlich reduzieren

"Wir haben mittlerweile Daten von zehn Patienten gesammelt und können über deutliche Effekte berichten", sagte Klosterkötter in Berlin. So kam es nach einem Jahr Follow-up, also zu einem Zeitpunkt, als bei allen Patienten der Stimulator schon mindestens ein halbes Jahr lang eingeschaltet war, zu einer statistisch hochsignifikanten Reduktion der Zwangssymptome. Gemessen wird der Effekt durch die monatliche Erfassung des international üblichen Y-BOCS-Punktwerts. Dieser Wert erlaubt auch eine Differenzierung zwischen Zwangsgedanken und Zwangshandlungen: "Wir konnten sowohl bei den Gedanken als auch bei den Handlungen signifikante Effekte erreichen", so Klosterkötter. Die bei Zwangsstörungen häufig auftretenden Ängste ließen sich jedoch nicht lindern.

Unklar ist zum jetzigen Zeitpunkt noch, wie genau die Verbesserungen zustande kommen. Bei vielen Patienten bringt nämlich das akute An- oder Ausschalten des Stimulators keinen klinischen Unterschied. Die These ist deswegen, daß es unter Dauerstimulation eher zu längerfristigen Veränderungen in den Erregungsmustern kommt, die dann auf Zwangssymptome lindern.

Professor Thomas Schläpfer konnte in Berlin über positive Erfahrungen mit der THS bei Patienten mit schwerer Depression berichten, auch wenn diese Studie noch nicht ganz so weit fortgeschritten ist: "Wir haben bei einigen Patienten beobachtet, daß die Stimulation akut Stimmungen modulieren kann. Aussagen über den dauerhaften antidepressiven Effekt können wir dagegen noch nicht treffen", so Schläpfer. Eine kanadische Arbeitsgruppe konnte diese Daten bereits liefern, allerdings an einem kleinen Kollektiv von sechs Patienten. Hier kam es auf gängigen Depressionsskalen im Mittel zu einer Halbierung der Punktwerte.

Einig waren sich alle Teilnehmer des Symposiums, daß bei der THS nichts übers Knie gebrochen werden sollte: "Wir als Psychiater haben bei invasiven Verfahren wie diesem natürlich immer die Erinnerung an die frühe Psychochirurgie mit ihren zum Teil grotesken Persönlichkeitsveränderungen im Nacken sitzen", sagte Klosterkötter. Es ist deswegen in den beiden Köln-Bonner Studien klar festgelegt, daß nur solche Patienten teilnehmen dürfen, bei denen wirklich alle medikamentösen, psychotherapeutischen und verhaltenstherapeutischen Möglichkeiten erfolglos geblieben sind.

Der Bedarf für weitere Therapien ist auf jeden Fall da: Auf etwa 20 Prozent schätzt Klosterkötter den Anteil der therapieresistenten Patienten unter den Zwangskranken. Mit etwa 27 Prozent gab Schläpfer die Quote derer an, die eine schwere Depression auch bei kombinierter medikamentöser und psychotherapeutischer Behandlung nicht in den Griff kriegen.

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