Um die Ecke wartet schon die nächste Erinnerung

Vorhandene Fähigkeiten zu aktivieren und verschüttete Erinnerungen auszugraben - das gehört zum Betreuungskonzept der Sunrise-Domizile für Senioren, einer Kette von Pflegeheimen, in denen schwerpunktmäßig Demenzpatienten betreut werden. Dabei helfen Biografiearbeit, Erinnerungswelten, aber auch das gemeinsame Kuscheln im Snozzleraum.

Von Pete Smith Veröffentlicht:
Manchmal wollen die Bewohner einfach nur die Nähe der Pflegerin spüren.

Manchmal wollen die Bewohner einfach nur die Nähe der Pflegerin spüren.

© Fotos: smi

Wenn es um ihr Äußeres geht, kennt Frau Z. keine Nachlässigkeiten. Nie käme sie auf die Idee, im Nachthemd zu frühstücken. Daher zieht sich die 89-jährige Bewohnerin des Sunrise Domizils für Senioren in Wiesbaden nach dem Duschen schick an und legt ihren Schmuck an. Ein Pfleger begleitet sie ins Café. Nach dem Frühstück geht's zum Morgenkreis. Hier wird Frau Z. und den anderen Bewohnern des Pflegeheims aus der Tageszeitung vorgelesen. Das Ritual dient der ersten Realitätsorientierung. Die sich anschließende Diskussion schafft Gemeinsamkeit und leitet bewusst in den Tag.

100 Appartements in einem Haus.

Bewusstsein schaffen - nicht die leichteste Aufgabe in einem Pflegeheim, in dem hauptsächlich Demenzpatienten betreut werden. Das Unternehmen Sunrise, einer der weltweit größten Betreiber von Pflegeeinrichtungen, setzt dabei auf Erinnerungsarbeit. Es geht darum, "vorhandene Ressourcen zu nutzen", wie es Pflegedienstleisterin Susanne Schoeppner ausdrückt. "Das Langzeitgedächtnis ist so eine Ressource." Da bei demenziellen Erkrankungen das Kurzzeitgedächtnis schrittweise nachlässt, sind Langzeiterinnerungen oft umso präsenter. Aus diesem Grund gibt es im ganzen Haus speziell gestaltete Räume, Ecken und Schatullen, die alle Sinne der Bewohner anregen und Erinnerungen wieder hervorholen sollen.

Die Erinnerungsarbeit beginnt jedoch, lange bevor ein neuer Bewohner aufgenommen wird. Susanne Schoeppner oder einer ihrer Kollegen sucht den künftigen Pflegeheim-Bewohner in seinem heimischen Umfeld auf. Im Gespräch mit ihm und seinen Angehörigen eruiert sie die Biografie des Seniors, seine Gewohnheiten und seine Besonderheiten: Wo und wann ist er geboren, welchen Beruf hat er ausgeübt, wie ist sein familiäres Umfeld, wie bewegt er sich in der Wohnung, was sind seine schönsten Erinnerungen, was sind seine Lieblingsgerichte? Diese Daten werden im Computer erfasst und sind allen Pflegekräften zugänglich. Jeder Bewohner bekommt zwei so genannte Bezugspfleger, die er sich in der Regel selbst aussucht. Sie sind im Pflegeheim seine engsten Vertrauten.

Angehörige sind Teil der Pflege

Frau Z. ist unruhig. Sie sucht, ist immer unterwegs und kann sich schlecht ausruhen. Auch jetzt, zwischen Morgengymnastik und Mittagessen. Irgendwann ist sie müde und wird weinerlich. Höchste Zeit für den Snoozzleraum! Hier, im abgedunkelten Bereich, kann Frau Z. entspannen. Je nach Befinden lauscht sie der Musik oder versenkt sich mit Hilfe optischer Reize in eine Traumwelt. Heute braucht sie nur Nähe. Zusammen mit ihrer Bezugspflegerin kuschelt sie sich aufs Sofa. So kommt die alte Dame allmählich zur Ruhe.

Collagen wie diese rufen bei den Heimbewohnern alte Gefühle wach.

Nach dem Essen hat sich Besuch angesagt. Das gehört zum Konzept. "Die Angehörigen werden in die Pflege integriert", erklärt Direktorin Caroline Hillesheim. Das Sunrise-Domizil liegt, umgeben von Villen und alten Bäumen, im noblen Dichterviertel von Wiesbaden. Eine Concierge empfängt den Besucher, der, versorgt mit Kaffee und Plätzchen, im Empfangsbereich darauf wartet, zu seinen Angehörigen geführt zu werden. Er sitzt unter einem riesigen Kronleuchter in einem Fauteuil, vis à vis Reproduktionen impressionistischer Meister, Säulen stützen die hohen Decken, ein glänzender Flügel sowie stilvolle Möbel erwecken die Atmosphäre eines Cafés aus der Gründerzeit. In den insgesamt 100 Appartements des Wiesbadener Pflegeheims - 56 in der so genannten "Reminiscence Nachbarschaft" für Demenzpatienten, 44 im Bereich "Assisted Living" - leben derzeit 53 Bewohner, darunter 25 Demenzpatienten. Betreut werden sie von 29 Pflegekräften. Zu den Aktivitäten zählen Spazierengehen, Gymnastik und Tanz, Singen, Vorlesen, Spielen - und nicht zu vergessen das Erinnern.

Eine Wiege erinnert die Bewohner an die Geburt Vor jedem Appartement hängt eine persönliche Erinnerungsschatulle. Diese hat der Bewohner gemeinsam mit seinem Pfleger gestaltet. In einer Schatulle kleben alte Fotos, in einer anderen steckt ein Morsecode, in einer dritten liegen Stickereien. Verteilt im Haus gibt es darüber hinaus so genannte Erinnerungsecken: Sie sollen den Bewohnern das Eintauchen in schöne Momente vergangener Zeiten erleichtern. In einer Ecke erinnert eine Wiege an die Geburt, in einer anderen symbolisiert ein Hochzeitskleid den schönsten Tag des Lebens, nicht weit entfernt thront ein antiker Schreibtisch mit uralter Schreibmaschine. Spezielle Themenboxen enthalten Utensilien wie Nähzeug oder Puzzles, ins Erinnerungs-Café locken Düfte bekannter Kuchenrezepte. "Selbst Bewohner, die einen klassischen Wortsalat haben, können im Alltag ganze Rezepte memorieren", erklärt Schoeppner. "Und beim gemeinsamen Kartoffelschälen kommt es vor, dass mir eine der Bewohnerinnen das Messer aus der Hand nimmt, um mir zu zeigen, wie man die Kartoffel dünner schält."

Inzwischen ist es neun Uhr abends. Frau Z. ist müde. Ihre Pflegerin weiß, dass die alte Dame nur zwei, drei Stunden schlafen und dann wieder aufstehen wird. Meist sitzt die Seniorin dann noch eine Stunde mit der Nachtschwester zusammen, bevor sie endgültig ins Bett geht und bis 7 Uhr durchschläft. Medikamente braucht sie dazu nicht. Ihr Tag war abwechslungsreich und anstrengend - und das macht müde.

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