Angst vor Mitschülern oder dem eigenen Versagen

KÖLN (dpa). Für betroffene Schüler ist es ein Absturz, für Experten eine sich stetig ausbreitende Krankheit. Von den derzeit gut 12 Millionen Schülern in Deutschland verweigern nach Schätzungen der Wissenschaft inzwischen etwa fünf Prozent die Schule, vor allem aus Angst vor Mobbing oder Versagen.

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"Wir haben es immer stärker mit Angststörungen zu tun, mit tragischen Fällen einer intellektuellen Überforderung und auch mit Kindern, die dem rauhen Klima nicht mehr gewachsen sind", sagt Wolfgang Oelsner.

Er leitet die Klinikschule der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität Köln, von der sich auch einst hoffnungsvoll gestartete Kinder nach krassem Leistungsabfall und monatelanger Schulverweigerung eine "letzte Chance" erhoffen.

Schulphobie gibt es nur in Wohlstandsgesellschaften

"Man muß von einer beginnenden Epidemie sprechen", betont Oelsner angesichts steigender Zahlen von Kindern, die unter Schulangst leiden oder Phobiker sind. "Bei der Schul-phobie handelt es sich um eine Krankheit, die es nur in westlichen Wohlstandsgesellschaften gibt", so Oelsner.

Schulphobiker hätten Trennungsängste, seien häufig Zuhause als "kleine Chefs" verhätschelt worden und würden in der Schule jäh von ihrem Thron gestoßen. "Weil diese Kinder vor allem aus der Mittelschicht stammen und meist nicht sozial auffällig werden, fallen sie oft erst sehr spät auf, was natürlich negativ für ihre Gesundungschancen ist."

Anna (16) ist nach jahrelangem "Druck, Stress und Depressionen" in der Klinikschule etwas ins Gleichgewicht gekommen. Ihre Schul-"Karriere" begann im Gymnasium. "War aber direkt klar, daß ich es da nicht schaffen konnte." Es folgten viele Schulwechsel, Streit, Ausgrenzung, Panikattacken, Leistungsabfall.

In der 8. Klasse einer Realschule schien die Talfahrt gestoppt. "Ich hatte anfangs gute Noten, aber dann fing das Mobbing wieder an. Ich war vier Monate nur zu Hause, hatte Angst vor allem. Eigentlich habe ich nur im Bett gelegen." Seit November 2004 besucht sie die Kölner Schule. Lebensmut, Leistungsbereitschaft und Selbstbewußtsein keimen neu auf.

Das Problem sind nicht die Schulschwänzer, die "null Bock" haben, erklärt der Direktor der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universitätsklinik Köln, Professor Gerd Lehmkuhl. "Wir sprechen von Verweigerung von Schule als Ausdruck einer komplexen pyschiatrischen Störung mit persönlichen und sozialen Hintergründen." In einigen Fällen treten auch selbstzerstörerische Tendenzen bis hin zum Suizidversuch auf. Genaue Zahlen gebe es nicht.

Die Kinder machen parallel zum Unterricht eine Therapie. "Bei etwa zwei Dritteln der Schüler können wir die Blockade nach kurzer und intensiver Therapie bereits nach vier bis sechs Wochen aufbrechen und die Patienten wieder in ihre Heimatschulen zurückschicken", sagt Lehmkuhl.

Malen, Musik, Sport, Einzelgespräche und Gruppenveranstaltungen helfen dabei, den Mut zurückzubringen. Bei den anderen gebe es immer wieder Rückfälle, es komme zu "chronifiziertem Leiden." Die Kinder kommen aus allen Schulformen und allen Altersklassen.

"Für die Schüler wollen wir nur Durchlaufstation sein"

"Für die Schüler wollen wir eigentlich nur Durchlaufstation sein, einige bleiben aber bei uns hängen und schaffen dann bei uns einen Haupt- oder Realschulabschluß", sagt Oelsner. Das wünscht sich auch Lina (16), die drei Jahre lang Schule verweigerte, von Arzt zu Arzt geschleppt wurde und eine erfolglose Therapie in einer psychiatrischen Klinik machte. "Ich gehe hier jeden Tag zur Schule, mache plötzlich Hausaufgaben und möchte hier gerne meinen Hauptschulabschluß schaffen."

Weitere Informationen im Internet unter www.uni-koeln.de/med-fak/kjp/

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