"Wir wollen die Kinder hier nicht in einem geschützten Bereich halten"

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Die elfjährige Viktoria sitzt an ihrer Schreibmaschine und tippt englische Vokabeln auf Karteikarten. "Why heißt Warum und Who ist Wer", sagt sie stolz. Doch als sie die erste Karte aus der Maschine holt, stehen dort keine Buchstaben, sondern kleine Punkte - Blindenschrift.

Denn Viktoria kann nicht sehen, sie ist seit ihrer Geburt blind. Zusammen mit 140 anderen Kinder besucht sie die Johann-August-Zeune-Schule in Berlin, die am Donnerstag ihren 200. Geburtstag feiert und damit die erste und älteste Blindenschule Deutschlands ist.

Ein Franzose und ein Deutscher gründeten die Blindenanstalt

Die Gründung der Berliner Blindenschule im Herbst 1806 war einem Franzosen zu verdanken. Valentin Hauy, der in Paris bereits seit 22 Jahren eine Blindenanstalt führte, machte auf seiner Reise nach St. Petersburg einen Zwischenstop in Berlin.

Dort traf er zufällig den Gymnasiallehrer Johann August Zeune und faßte mit ihm den Entschluß, auch in dieser Stadt eine Blindenschule einzurichten. Damals erblindeten die Menschen noch wegen kleinster Infektionen und mußten für ihren Broterwerb meist betteln gehen.

Das sollte sich mit der Gründung der Schule ändern. Zeune war überzeugt, daß Blinde entgegen der öffentlichen Meinung durchaus zur Schule gehen konnten. 1806 fing der 28jährige in seiner Privatwohnung mit nur einem Schüler an. Einige Jahre später mußte er in ein größeres Gebäude umziehen, um die dutzenden Kinder und Jugendlichen unterrichten zu können.

Heute leben in Deutschland nach Angaben des Blinden- und Sehbehindertenverbandes etwa 145 000 Blinde und mehr als 500 000 sehbehinderte Menschen. Die meisten von ihnen sind älter als 60 Jahre, doch mehr als 10 000 sind jünger als 18 Jahre und werden in den bundesweit 50 Blindenschulen unterrichtet.

Eine von ihnen ist die Johann-August-Zeune-Schule. Die Klassen 1 bis 13 sind auf einem Gelände vereint. Auf dem Schulhof laufen Kinder umher, aus dem Musikraum ist ein Klavier zu hören, und in den Klassenräumen sitzen die Schüler an Computern und üben Mathe, Physik und Deutsch. "Wir folgen in allen Fächern dem regulären Rahmenlehrplan, der auch für alle anderen Schulen in Berlin gilt", sagt der Schulrektor Thomas Kohlstedt. Daher sind die Abschlüsse von dieser Einrichtung auch gleichwertig mit denen anderer Schulen.

Vor allem aber ist Kohlstedt wichtig, daß seine Schüler selbstständig sind. "Wir wollen die Kinder hier nicht in einem geschützten Bereich halten - sie sollen sich in der Welt da draußen gut zurechtfinden." Deswegen lernen die Kinder auch Kochen, Schwimmen und das Surfen im Internet.

Zum einen müssen sie mit ihrer Behinderung klar kommen. Gerade, wenn sie sehend zur Welt gekommen und erst im Laufe der Jahre erblindet sind, müssen sie ihre Situation psychisch verarbeiten. Hinzu kommt, daß sie mit den normalen Schulfächern und Übungen für den Alltag doppelt belastet werden.

Die meisten Kinder kommen mit der Behinderung gut zurecht

Die meisten Kinder der Schule kommen gut mit ihrer Behinderung zurecht. Sie albern herum, sobald ihre Lehrerin einen Augenblick nicht aufpaßt, und nutzen wie Viktoria jede Gelegenheit zum Reden. Als die große Pause beginnt, stürmen die Schüler aus den Klassen und tasten sich an den Wänden oder am Geländer in Windeseile über die Gänge.

Damit alles glatt läuft, gibt es eine Regel: Jeder geht auf der rechten Seite. An diesem Tag hat es aber ein Schüler besonders eilig und stürmt auf der anderen Seite den Gang entlang - und stößt mit einem sehbehinderten Mädchen zusammen. Die erschrickt, ruft dann aber wütend: "Guck doch, wo du hinläufst!" (dpa)

Weitere Informationen finden Sie im Internet unter www.dbsv.org und www.blindenschule-berlin.de

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