Hintergrund

AOK bringt Hamburger Jugendliche auf Trab

Übergewicht, psychische Auffälligkeiten, Alkoholmissbrauch: Der Gesundheitszustand vieler Hamburger Kinder und Jugendlicher ist bedenklich. Jetzt hat die AOK mit vielen Partnern - unter ihnen Sportstars - ein Bündnis geschmiedet, um den Nachwuchs zum Sport zu animieren.

Dirk SchnackVon Dirk Schnack Veröffentlicht:
Will Kinder zum Training locken: Handballnationalspieler Pascal Hens vom HSV.

Will Kinder zum Training locken: Handballnationalspieler Pascal Hens vom HSV.

© dpa

Kinder, die mit Handballstar Pascal Hens trainieren dürfen. Sportvereine, die auf die Schulen zugehen und nach gemeinsamen Konzepten für den Nachwuchs suchen.

Schulhöfe, die auch nachmittags für Kinder zum Toben geöffnet sind. Für den Hamburger Kinderarzt Dr. Stefan Renz klang das bis vor Kurzem wie ein unerfüllbarer Wunschzettel.

Der Vorsitzende des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte in Hamburg findet diese Punkte inzwischen in einem Aktionsplan für ein Gesundheitsprogramm, das die AOK Rheinland/Hamburg für die Hansestadt aufgelegt hat.

Ziele sind die Schaffung von Bewegungsangeboten, die Heranführung an den Vereinssport und die Vermittlung gesunder Lebensgewohnheiten für Kinder und Jugendliche.

Ausgaben werden verdoppelt

Dafür nimmt die Krankenkasse ungewöhnlich viel Geld in die Hand und hat ein breites Bündnis an Unterstützern zusammen getrommelt. Die Ausgaben für die Gesundheitsvorsorge des Nachwuchses von bislang rund 1,3 Millionen Euro werden in Hamburg verdoppelt.

Die zur Verfügung stehenden Mittel sind unter anderem für Sportvereine gedacht. Bis zu 20 Vereine können eine jährliche Unterstützung erhalten, wenn sie eine Schulpatenschaft übernehmen und mit der Lehranstalt gemeinsame Konzepte zu Bewegung und Sport umsetzen.

Als Zugpferd dient dabei der amtierende Deutsche Handballmeister HSV. Dessen Stars Pascal Hens und Torhüter Jogi Bitter sowie Präsident Martin Schwalb sind in der Hansestadt bekannte Gesichter, die die Kinder zu einer Trainingseinheit locken sollen.

Kinder ohne Vereinszugehörigkeit sollen so zum Handballsport bewegt werden. "Daraus wird sich auch eine generelle Bewegung in andere Vereinssportarten ergeben", sagte AOK-Vorstandsmitglied Rolf Buchwitz bei der Vorstellung des Gesundheitsprogramms.

Grundlagen für gesundes Altern in Kindheit

Im Hamburger Gesundheitswesen ist der Krankenkasse breite Unterstützung sicher. Neben der Gesundheitsbehörde sind auch die Behörden für Schule und für Inneres und Sport einbezogen.

Die KV, Zahnärzte, der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte sind genauso dabei wie die Uni Hamburg, das Kinderkrankenhaus Wilhelmstift und der Handballverband.

Gesundheitssenatorin Cornelia Prüfer-Storcks erwartet, dass das AOK-Programm dem jüngst vorgestellten Pakt für Prävention in der Hansestadt mehr Schub verleiht.

Sie hofft, dass die in Hamburg leicht unter dem Bundesdurchschnitt liegenden Teilnahmequoten an den Vorsorgeuntersuchungen steigen und dass 100 Minuten Bewegung am Tag für jedes Kind und jeden Jugendlichen Normalität werden.

Denn die Grundlagen für gesundes Altern würden schon in der Kindheit gelegt. "Mit einer Wahrscheinlichkeit von bis zu 80 Prozent werden aus unfitten Kindern auch unfitte Erwachsene", so Buchwitz.

Besorgnis erregende Zahlen

Die derzeitigen Zahlen geben Anlass zur Besorgnis. Nach Angaben der AOK sind rund zwölf Prozent der Hamburger Kinder im Schuleingangsalter übergewichtig, sechs Prozent der Jungen sogar adipös. Weitere Fakten:

Stationär wird eine steigende Zahl von Kindern mit Krankheitsbildern behandelt, die vor zehn Jahren noch nebensächlich waren, etwa Diabetes, Konzentrationsschwächen und Medikamentenmissbrauch.

Die Fitness sinkt, neun Prozent der Sechsjährigen haben motorische Entwicklungsstörungen. 86 Prozent können nicht eine Minute auf einem Bein stehen. 35 Prozent können keine zwei Schritte rückwärts balancieren, 40 Prozent klagen über Rückenschmerzen.

Bei 22 Prozent gibt es Hinweise auf psychische Auffälligkeiten. 4,3 Prozent der unter 15-Jährigen haben mindestens einmal Psychopharmaka verordnet bekommen.

46 Prozent der Jugendlichen trinken einmal pro Woche Alkohol, im zweiten Halbjahr 2011 wurden in sechs befragten Kliniken Hamburgs mehr als 70 Minderjährige wegen Alkoholvergiftung aufgenommen.

"Sportverein muss cooler sein als Facebook"

Kann Bewegung eine Lösung sein? Zumindest gelten Sport und Alltagsbewegungen als wichtigste risikomindernde Gesundheitsgrößen und schützen vor der Entstehung von Übergewicht.

Deshalb sollen über das Programm und die prominenten Sportler so viele Kinder wie möglich angesprochen werden.

Zusätzlicher Anreiz ist ein AOK Aktivpass, mit dem Kinder für Aktivitäten wie Vereinssport, Bundesjugendspiele oder Sportabzeichen Punkte sammeln und gegen Prämien eintauschen können. Ob das Programm wirkt, wird von der Uni Hamburg evaluiert.

Die AOK hat dazu konkrete Vorgaben gemacht: Aus den derzeit 4200 in 80 Vereinen spielenden Handballern im Kinder- und Jugendbereich sollen schon zum Jahresende 5000 werden.

Wenn das gelingt, könnte sich für Kinderarzt Renz ein weiterer Wunsch erfüllen: "Der Sportverein muss cooler sein als Facebook."

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