HINTERGRUND

Diabetiker werden als erste von der Stammzellforschung profitieren

Philipp Grätzel von GrätzVon Philipp Grätzel von Grätz Veröffentlicht:

Mit der jetzt in Berlin von Vertretern des Berliner Max Delbrück-Centrums für Molekulare Medizin und des Forschungszentrums Jülich vorgelegten Studie zur "Zukunft der Stammzellforschung in Deutschland" findet ein aufwendiges Projekt seinen Abschluß: Gefördert vom Bundesministerium für Forschung und Technologie wurde unter dem Titel "Diskurs zu den ethischen Fragen der Biomedizin" zwei Jahre lang sondiert, wie die Deutschen zum Thema Stammzellforschung stehen.

Zu Wort kamen zum einen Vertreter der Bevölkerung, die Anfang des Jahres in einer Bürgerkonferenz direkten Zugang zu Expertenwissen erhielten (die "Ärzte Zeitung" berichtete). Zum anderen wurden in einem als Delphi bezeichneten Verfahren 49 Stammzellforscher in Deutschland über die Zukunftsaussichten ihrer Disziplin befragt.

Unter den Forschern herrscht vorsichtiger Optimismus

Insgesamt stehen die Zeichen in der Forschergemeinde auf vorsichtigem Optimismus. Wunderheilungen in naher Zukunft erwartet niemand mehr, doch hält die Mehrheit der Experten es für möglich, daß in sechs bis zehn Jahren Patienten nach einem Herzinfarkt regelhaft mit körpereigenen, adulten Stammzellen behandelt werden. Etwa derselbe Zeithorizont wird auch für die Anwendung insulinproduzierender Zellen bei Diabetikern angegeben.

Deutlich skeptischer sind die Wissenschaftler, wenn es um Erkrankungen des Nervengewebes geht: In frühestens 11 bis 15 Jahren könnte es nach Auffassung der Mehrheit der Stammzellforscher gelingen, bei Patienten mit multipler Sklerose das Fortschreiten der Erkrankung durch die Transplantation von aus embryonalen Stammzellen oder anderen Vorläuferzellen herangezüchteten Gliazellen aufzuhalten. Fast jeder fünfte Befragte hält das allerdings für grundsätzlich nicht realisierbar.

Auch die Linderung oder Heilung von Patienten mit Parkinson-Erkrankung wird von jedem Siebten als illusorisch angesehen.

Züchtung von Organen wird mit Skepsis betrachtet

Ebenfalls in 11 bis 15 Jahren erwartet wird der erfolgreiche Einsatz menschlicher Stammzellen zur Regeneration von Nervenbahnen nach einer Querschnittslähmung. Bei der Alzheimer-Erkrankung wird der Horizont noch weiter nach hinten geschoben, in Richtung 20 Jahre.

Die allergrößte Skepsis aber herrscht in Bezug auf die In-vitro-Züchtung von Organen wie Nieren, Leber oder Herz: Neun von zehn Befragten sehen die Realisierung des Szenarios nicht in den nächsten 20 Jahren.

Bei den Risiken der Stammzelltechnik gehen die Meinungen deutlicher auseinander. Etwa die Hälfte der befragten Forscher ist der Auffassung, daß sich die Übertragung von Krankheitserregern bei der Züchtung beziehungsweise Transplantation von embryonalen Stammzellen prinzipiell nicht kontrollieren läßt. Die andere Hälfte allerdings sieht eine Lösung dieses Problems innerhalb der nächsten Jahre.

Uneinigkeit herrscht auch darüber, ob das Risiko einer Bildung von bösartigen, embryonalen Tumoren durch Medikamente oder durch den Einbau von Selbstmordgenen reduziert werden kann. 40 Prozent der Befragten sagen hier: nein. Ein Viertel sieht die Realisierung dieses Konzepts in 11 bis 15 Jahren.

      Embryo-Stammzellen werden als Forschungs-gegenstand eingestuft.
   

Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, daß embryonale Stammzellen insgesamt eher als Forschungsgegenstand angesehen werden, man sich dagegen die therapeutischen Innovationen langfristig von adulten Stammzellen erhofft.

Weil die Forschung mit embryonalen Stammzellen in Deutschland stark reglementiert ist, erwartet die Mehrheit der Forscher nicht, daß Deutschland trotz einer verstärkten Förderung von Arbeiten mit adulten Stammzellen in der Stammzellforschung international dauerhaft in der ersten Liga mithalten kann. Eine Lockerung des Embryonenschutzgesetzes, eine Aufhebung der Importbeschränkungen für embryonale Stammzellen sowie die Einrichtung von öffentlichen Biobanken nach britischem Vorbild, das sind in den Augen der Mehrheit die Voraussetzungen für den Klassenerhalt.

Die Bürger stehen dieser Position nicht so ablehnend gegenüber, wie vielleicht erwartet wurde: Zumindest unter den zwölf per Zufall ausgewählten Teilnehmern an der Bürgerkonferenz des Max Delbrück-Centrums gab es zu der Frage einer Lockerung des Embryonenschutzes ein Patt: Zwar lehnten alle zwölf die Herstellung von Embryonen zu Forschungszwecken ab. Die Verwendung von überzähligen Embryonen aus der künstlichen Befruchtung dagegen wurde von vier Befragten befürwortet und von zweien zumindest nicht prinzipiell ausgeschlossen.

Lesen Sie dazu auch den Kommentar: Forschung am Scheideweg



FAZIT

Unter den Stammzellforschern in Deutschland gibt es vorsichtigen Optimismus. Schon in sechs bis zehn Jahren könnten Herzkranke und Diabetiker von einer Behandlung mit adulten Stammzellen profitieren. Bei anderen Erkrankungen wie Morbus Alzheimer oder Morbus Parkinson wird es dagegen deutlich länger dauern. Noch nicht einig sind sich die Forscher über die Risiken der Verwendung von embryonalen Stammzellen für die Therapie. Die meisten befürworten eine Lockerung der gegenwärtigen Reglementierungen.

 

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