"Die Gentherapie durchläuft einen Image-Wandel"

BERLIN (gvg). Im September 1990 erhielt die vierjährige Ashanti de Silva in den USA die erste Gentherapie. Sie litt an einer angeborenen Immunschwäche. Die elf Infusionen genetisch modifizierter T-Zellen verbesserten ihren Immunstatus deutlich. Sie lebt heute ein normales Leben. Aus Anlaß dieses Jubiläums macht sich Professor Klaus Cichutek von der Abteilung für Medizinische Biotechnologie am Paul-Ehrlich-Institut Gedanken über ein Verfahren, an dem sich auch nach 15 Jahren noch die Geister scheiden. Die Fragen stellte Philipp Grätzel von Grätz, Mitarbeiter der "Ärzte Zeitung".

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Ärzte Zeitung: Seit 15 Jahren werden Gentherapien jetzt in klinischen Studien bei Menschen erprobt. Von einer breiten Anwendung kann aber keine Rede sein. Woran liegt das?

Cichutek: Bei der Gentherapie handelt es sich um eine komplett neue Therapierichtung. Auch bei anderen biologischen Arzneimitteln gelangt nur ein kleiner Teil der Medikamente, die in Phase I-Studien getestet werden, bis in die Phase III. Das Besondere bei der Gentherapie ist, daß viele Menschen schon in der Phase I spektakuläre Therapieerfolge erwartet haben.

Diese Erwartungen wurden zwangsläufig enttäuscht. Dazu kommt, daß wir bei der Gentherapie nicht nur das Gentherapie-Arzneimittel, nämlich die Genfähren oder Vektoren, sondern auch noch die beste Behandlungsstrategie, die optimale Art der Applikation und die richtige Variante des therapeutischen Gens gleich mit entwickeln müssen. Die Ausgangssituation ist also viel schwieriger, als sie es zum Beispiel bei der Entwicklung der monoklonalen Antikörpern war. Die haben sich viel schneller durchgesetzt.

Ärzte Zeitung: Aber Fortschritte hat es in den vergangenen 15 Jahren doch sicher gegeben?

Cichutek: Es gab sogar große Erfolge! Nehmen Sie die angeborenen Immundefekte: Bei ADA (Adenosin-Deaminase-Defizienz) waren die Ergebnisse anfangs noch nicht eindeutig positiv. Aber Kinder mit der angeborenen, meist tödlichen Immunschwäche SCID X1 werden in Frankreich und England mittlerweile erfolgreich gentherapeutisch behandelt.

Auch bei Patienten mit Chronischer Granulomatose ist die Gentherapie ein Erfolg. Mit diesen Studien wurde gezeigt, daß es möglich ist, bei monogenetischen Erbkrankheiten das defekte Gen gegen ein funktionsfähiges zu ersetzen, die Patienten also kausal zu behandeln. Der Anspruch, mit dem die Gentherapeuten vor 15 Jahren angetreten sind, ist damit erfüllt.

Ärzte Zeitung: Wenn man sich die Gentherapiestudien so ansieht, sind Erbkrankheiten insgesamt aber eher in den Hintergrund getreten...

Cichutek: Stimmt. Das Feld potentieller Anwendungen ist sehr viel breiter geworden als wir uns das anfangs vorgestellt haben. Die Gentherapie durchläuft einen Imagewandel: Es geht zunehmend darum, neue Therapieoptionen bei Volkskrankheiten zu entwickeln. Die wichtigsten Indikationen für eine Gentherapie, die derzeit hauptsächlich erprobt werden, sind Krebs und kardiovaskuläre Erkrankungen.

Hier sind einige sehr interessante Therapieverfahren in der Entwicklung, an denen auch kleine und größere pharmazeutische Firmen beteiligt sind. Bei den peripheren Durchblutungsstörungen zum Beispiel gibt es weit fortgeschrittene Studien, bei denen Wachstumsfaktor-Gene zur Bildung neuer Blutgefäße eingesetzt werden. Ähnliche Ansätze gibt es auch am Herzen, zum Beispiel zur Herzinfarkt-Behandlung.

Ärzte Zeitung: Sind die molekularen Prozesse beim Gentransfer gut genug verstanden, um die Risiken einschätzen zu können, zum Beispiel die Entwicklung von bösartigen Tumoren?

Cichutek: Bei der Behandlung von Patienten, die an der Immunschwächekrankheit SCID X1 leiden, traten in Einzelfällen Leukämien auf, die mit der Gentherapie in Zusammenhang standen. So etwas ist auch heute noch schwierig vorherzusagen.

Letztlich kommt es aber auch bei Eintreten solcher Nebenwirkungen auf die individuelle Nutzen-Risiko-Abwägung bei der Therapie an. Es handelt sich bei SCID X1 um eine lebensbedrohliche Erkrankung, bei der es keine anderen Therapieoptionen gibt. Die behandelten Kinder hätten ohne Gentherapie sterben müssen, das darf man nicht vergessen.

Bei einigen Formen der Knochenmarkstransplantation, die als Standardtherapie gilt, müssen wir den Tod einiger Patienten leider auch in Kauf nehmen: Da gilt es als vertretbar, wenn drei von zehn Patienten an der Therapie sterben, weil es keine Alternative zur Transplantation gibt. Ähnlich wird dies bei einigen Gentherapieverfahren an Schwerstkranken auch sein. Andere Gentherapieverfahren haben ein geringes Risiko und werden bei Gesunden erprobt. Das Spektrum der Gentherapie ist viel breiter als häufig öffentlich wahrgenommen.

Ärzte Zeitung: Welche neueren Entwicklungen auf dem Gebiet halten Sie für besonders interessant?

Cichutek: Die erste Zulassung eines Gentherapeutikums würde ich im Bereich Krebs erwarten. Im Hinblick auf die mittelfristige Zukunft ist die Entwicklung präventiver Impfstoffe sehr en vogue, zum Beispiel gegen die HIV-Infektion. Hier wurde lange mit nackter DNA gearbeitet, doch in letzter Zeit werden auch vermehrt Adenoviren als Genfähren eingesetzt.

Ebenfalls "in" ist es, Genfähren als Transportmittel für kleine RNA-Moleküle zu verwenden, die dann im Zielgewebe die Aktivität von unerwünschten Genen unterdrücken. Hier gibt es tolle Forschungsergebnisse an Tiermodellen bei neuronalen Erkrankungen ähnlich wie Morbus Parkinson. Inwieweit sich diese Ergebnisse auf Menschen übertragen lassen, wird erforscht.

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