HINTERGRUND

Umstrittene Grenzwerte - Skilangläufer und ihr Hämoglobin

Von Nicola Siegmund-Schultze Veröffentlicht:

Pünktlich zum Beginn der Olympischen Winterspiele in Turin entbrennt der medizinische Streit von Neuem: Kann es mit rechten Dingen zugehen, daß die deutsche Skilangläuferin Eva Sachenbacher-Stehle bei einer Messung am Freitag einen Hämoglobinwert von 16,3 g/dl Blut aufwies?

Die Hämoglobinkonzentration bei der Staffel-Olympiasiegerin von 2002 überstieg damit den zulässigen Grenzwert von 16,0 g/dl um 0,3 und führte zu einer Schutzsperre von fünf Tagen durch den Internationalen Skiverband (FIS).

Ob solche geringen Abweichungen bereits ein Beleg für Blutdoping sind, ist seit langem umstritten. Aber es geht der FIS nach eigenen Angaben bei der Schutzsperre ja um Schutz vor einem erhöhten Thromboserisiko.

Sachenbacher-Stehle ist 25 Jahre alt. Für Frauen zwischen 20 bis 40 liegen die von der FIS festgelegten Grenzwerte für das Hämoglobin zwischen 12 und 16 g/dl. Dieser Konzentrationsbereich für das Hämoglobin entspricht den allgemeinen Normwerten, wie sie auch in der internistischen Medizin verwendet werden. Bei Männern zwischen 20 und 40 Jahren liegen die Normwerte für die gesunde Bevölkerung zwischen 13 und 17 g/dl, die FIS hat für Männer dieser Altersgruppe einen Maximalwert von 17 g/dl festgelegt.

An diesem Wert sind bereits die deutschen Athleten Jens Filbrich und Franz Göring gescheitert. Für die beiden Skilangläufer gibt es allerdings eine Ausnahmegenehmigung, weil der Verband eine genetische Veranlagung als Begründung für die verstärkte Erythropoese für glaubhaft hielt.

Bei Ausdauersportlern sinkt der Hämoglobinwert meistens

Normwerte für die Hämoglobinkonzentration werden aus großen Bevölkerungsstatistiken ermittelt. Definitionsgemäß liegen 95 Prozent der gesunden Menschen innerhalb des Normbereiches, fünf Prozent außerhalb mit Abweichungen nach unten und oben.

Der von der FIS erlaubte maximale Grenzwert scheint also sehr restriktiv zu sein. Im ersten Moment. "Bei Ausdauersportlern steigt in der Hochleistungsphase das Plasma- und damit auch das Blutvolumen", erläutert Peter Bärtsch, Professor für Sportmedizin an der Uni Heidelberg. "Bei einem großen Blutvolumen sinkt der Hämoglobinwert. Es ist daher eher unwahrscheinlich daß man die Maximalwerte als Ausdauersportler überschreitet." Genetische Variationen, die für konstant sehr hohe Hämoglobinkonzentrationen sorgen, seien extrem selten.

Ähnlich sieht es Professor Peter Kaltwasser, Hämatologe und Rheumatologe von der Uniklinik Frankfurt/Main. Deutliche Abweichungen ließen sich nicht völlig ausschließen, seien aber ungewöhnlich. Es gebe eine gewisse interindividuelle Variabilität. An der Regulation der Erythropoese seien viele Proteine beteiligt, und eine genetische Disposition für eine verstärkte Erythrozytenbildung über viele verschiedene Regulatoren hält Kaltwasser für möglich.

Auch äußere Faktoren beeinflussen bekanntlich die Neubildung von roten Blutkörperchen, allen voran ein geringer Sauerstoffpartialdruck, wie er von Ausdauersportlern beim Höhentraining genutzt wird. Auch Sachenbacher-Stehle war vor Turin beim Höhentraining. Bärtsch: "Wer sich längere Zeit in großer Höhe aufhält, also zum Beispiel bei 2500 Metern, bildet mehr Blut. Kurze Zeit nach der Rückkehr auf ein niedriges Niveau steigt aber wiederum das Plasmavolumen. Man muß also ganz genau nach den Zeiten des Aufenthaltes und der Rückkehr fragen."

Der Hämoglobinwert kann aber auch kurzfristig ohne Ankurbeln der Erythropoese erhöht sein, zum Beispiel durch Dehydratation. Umgekehrt läßt sich die Zahl der Erythrozyten durch viel Trinken verdünnen. Schwere, körperliche Arbeit läßt den Hb-Wert ebenfalls vorübergehend ansteigen. Bei Ausdauersportlern, die durchtrainiert sind, spielt letzteres aber laut Bärtsch keine Rolle.

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STICHWORT

Hämoglobinwerte

Im Gegensatz zum Serum oder Plasma, in denen erhöhte Hämoglobinwerte Folge einer verstärkten Hämolyse sein können, sind die im Vollblut bestimmten Hämoglobinwerte ein Parameter für die Zahl der Erythrozyten. Die Erythrozyten gehen aus Proerythroblasten hervor, die sich zu Erythroblasten, Retikulozyten und schließlich den Erythrozyten weiterentwickeln. Wichtigster humoraler Regulator der Erythropoese ist das Erythropoetin. Unter der Ägide dieses in der Niere gebildeten Glykoproteins wird die Erythropoese auf den verschiedenen Stufen der Vorläuferzellen reguliert, je nachdem, ob ein erhöhter oder erniedrigter Bedarf länger- oder kurzfristig besteht. Auf die Vorläuferzellen wirken weitere Botenstoffe ein, zum Beispiel GM-CSF, Interleukin 3 und Insulin-like-growth-Factor. (nsi)

 

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