Präsidentin des Adipositas-Kongresses:

Adipöse Kinder konsequent behandeln!

Adipositas bei Kindern bedeutet mehr, als zuviel Gewicht auf die Waage zu bringen. Häufig finden sich bereits Zeichen eines metabolischen Syndroms. Daher muss konsequent behandelt werden, auch medikamentös, betont Privatdozentin Dr. Susanna Wiegand, Präsidentin des Adipositas-Kongresses in Potsdam und Leiterin der Adipositas-Ambulanz an der Charité Berlin.

Dr. Thomas MeißnerVon Dr. Thomas Meißner Veröffentlicht:
Viele adipöse Kinder und Jugendliche leiden bereits bei Erstvorstellung an mindestens einer Komponente des metabolischen Syndroms.

Viele adipöse Kinder und Jugendliche leiden bereits bei Erstvorstellung an mindestens einer Komponente des metabolischen Syndroms.

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Ärzte Zeitung: Frau Dr. Wiegand, Sie haben Ende der 1990er-Jahre in Berlin ein Schulungsprogramm für adipöse Kinder und Jugendliche etabliert. Wie hat sich die Situation seither verändert?

PD Dr. Susanna Wiegand: Als sozialmedizinisches Zentrum praktizieren wir eine individuelle und multiprofessionelle Behandlung. Das unterscheidet uns von anderen Rehabilitationseinrichtungen. Wir befassen uns nicht nur mit Komorbiditäten der Adipositas, sondern auch häufig mit psychosozialen Problemen der betroffenen Kinder und Jugendlichen.

Dr. Susanna Wiegand

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Dazu gehören zum Beispiel extreme Adipositas bei den Eltern, teils gepaart mit psychiatrischen Störungen, Suchtproblemen, Essstörungen. Und dies nimmt deutlich zu.

Warum nimmt dies zu? Das wissen wir nicht sicher. Wir stellen nur fest, dass die Familien, die zu uns kommen, im Vergleich zu früher immer kränker werden.

Sehen Sie bei adipösen Kindern und Jugendlichen bereits Folgeschäden? Pro Quartal kommen durchschnittlich 500 adipöse Kinder und Jugendliche in unser Zentrum. Von denen haben etwa 60 Prozent bereits bei Erstvorstellung mindestens eine Komponente des metabolischen Syndroms, von Bluthochdruck und Fettlebererkrankungen über erhöhte Harnsäurewerte und Fettstoffwechselstörungen bis hin zu gestörter Glukosetoleranz, selten auch einen manifesten Typ-2-Diabetes. Hinzu kommen die orthopädischen Probleme wie Epiphyseolysen und die verminderte körperliche Leistungsfähigkeit, selten auch ein Pseudotumor cerebri mit erhöhtem Hirndruck.

Wie hoch ist der Anteil der Kinder mit Typ-2-Diabetes? Zu dieser Frage verfügen wir in Deutschland und Europa über keine guten Daten. Unter den betreuten adipösen Jugendlichen haben ein bis zwei Prozent einen Typ-2-Diabetes. In Nordamerika sind diese Zahlen größer, nicht nur weil Adipositas dort noch verbreiteter ist als bei uns, sondern weil Menschen mit afrikanischer oder indianischer Abstammung ein deutlich erhöhtes Diabetesrisiko bei vergleichbarem Übergewicht wie Kaukasier haben.

Welche therapeutischen Konsequenzen hat das Vorhandensein von Folgeschäden? Es hilft nicht, zu sagen: "Dieser Jugendliche mit Adipositas und hohem Blutdruck muss erstmal abnehmen." Mit dieser Begründung wird die medikamentöse Behandlung leider oft verzögert. Ein hoher Blutdruck muss auch in diesem Alter medikamentös gesenkt werden. Bei bestehendem Typ-2-Diabetes müssen wir gegebenenfalls mit oralen Antidiabetika behandeln.

Leider sind wir dabei mit dem bekannten Phänomen konfrontiert, dass für viele Substanzen in der Pädiatrie keine Zulassungen existieren. Natürlich besteht immer das Ziel darin, weiter abzunehmen und die Medikamente wieder loszuwerden.

Welche Rolle spielen die Eltern, wenn ihre Kinder übergewichtig und adipös werden? Der genetische Anteil bei der Gewichtsentwicklung von Kindern und Jugendlichen liegt bei etwa 50 Prozent und damit höher als bei Erwachsenen. Diese Information empfinden viele Eltern als entlastend. Natürlich kommt ein ungesunder Lebensstil hinzu, den man aktiv beeinflussen kann.

Wie beziehen Sie die Eltern ein? Bei Klein- und Schulkindern sind die Eltern natürlich die Hauptadressaten der Schulungen. Denn sie bestimmen, was eingekauft wird, wie viel Taschengeld es gibt und wie die Freizeit gestaltet wird.

Auch bei Jugendlichen werden die Eltern in die Maßnahmen einbezogen. Natürlich ist es gut, wenn adipöse Eltern ebenfalls versuchen, Gewicht zu reduzieren.

Welches sind die Haupthindernisse einer Lebensstiländerung? Wir unterscheiden die Verhältnisebene und die Verhaltensebene. Die Verhältnisebene betrifft das Umfeld der Kinder und Jugendlichen, also den Schulalltag, die Betreuungssituation, den Medienkonsum und ob regelmäßige Mahlzeiten angeboten werden. Diese Ebene wird nach unserer Auffassung in der Prävention noch zu wenig adressiert.

Haupthindernisse auf der Verhaltensebene sind ein niedriges Bildungsniveau der Eltern, schlechte Deutschkenntnisse, chronische Erkrankungen. Diese Aufzählung kennzeichnet natürlich die spezifische Betreuungssituation bei uns als einem sozialpädiatrischen Zentrum. Das kann nicht unbedingt auf andere Betreuungssituationen übertragen werden.

Ist Normalgewicht stets das primäre Ziel bei stark adipösen Kindern? Die Zielplanung ist stets individuell und orientiert sich auch an den Ressourcen der Familie. Bereits ein Stillstand der Gewichtszunahme kann ein Ziel sein, weil dies nachgewiesenermaßen schon die Komorbidität bessert.

Und selbst das ist für viele schon schwer genug zu erreichen. Die realistische Zielplanung erfolgt sehr kleinschrittig. Viele Familien haben bereits viele Misserfolge erlebt. Jeder noch so kleine Erfolg ist daher wichtig, um darauf weiter aufzubauen.

Weitere Informationen über die Deutsche Adipositasgesellschaft: http://www.adipositas-gesellschaft.de Adipositas-Ambulanz der Charité Berlin: https://spz.charite.de/leistungen/interdisziplinaer/adipositas

Dr. Susanna Wiegand

Aktuelle Position: Leiterin der Adipositas-Ambulanz an der Charité Berlin

Seit 1999 Oberärztin im interdisziplinären Sozialpädiatrischen Zentrum der Charité

Seit 2007 Mitglied der Leitlinienkommission der Arbeitsgemeinschaft Adipositas im Kindes- und Jugendalter (AGA)

Seit 2010 Sprecherin der AGA in der Deutschen Adipositas-Gesellschaft (DAG)

2013 Habilitation und Venia legendi für das Fach Kinderheilkunde

2017: Zusammen mit Professor Petra Warschburger, Institut für Psychologie der Universität Potsdam, Präsidentin der 33. Jahrestagung der DAG in Potsdam

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