Wer Farben bloß vom Hörensagen kennt ...

Hochgerechnet leben in Deutschland rund 3000 Menschen mit einem Gendefekt, der sie völlig farbenblind macht. Ihre Sehschärfe beträgt nur zehn Prozent, zudem sind sie so empfindlich gegen helles Licht, dass etwa Fernsehen sie mehr blendet als unterhält. Trotzdem wissen viele nicht einmal etwas von ihrer Krankheit.

Von Marco Hadem Veröffentlicht:

Nils hat braune Haare, braune Augen, er trägt mittelblaue Jeans und ein hellblaues T-Shirt. Doch im Spiegel sieht der Fünfjährige sich nur in Grau. Seit seiner Geburt lebt der aufgeweckte und fröhliche Junge aus dem westfälischen Dorsten in einer Welt in Schwarz-Weiß. Farben kennt er nur vom Hörensagen. Denn Nils hat die sehr seltene Erbkrankheit Achromatopsie. Es wird geschätzt, dass bundesweit etwa 3000 Menschen den Gendefekt haben.

"Fälschlicherweise bezeichnen viele Menschen Sehstörungen wie die Rot-Grün-Schwäche als Farbenblindheit", sagt Nils' Vater Olav Hagemann. "Das ist aber eigentlich falsch, da hier nur gewisse Farben nicht wahrgenommen werden." Für Achromaten ist das jedoch Realität. Sie sind gänzlich farbenblind: Die zur Wahrnehmung benötigten Sinneszellen auf der Netzhaut, die sogenannten Zapfen, funktionieren nicht. Lediglich die Sinneszellen für das Sehen im Dunkeln, die Stäbchen, stehen zur Verfügung.

Daher sind Achromaten nicht nur farbenblind, sondern auch überempfindlich gegen Licht. Ihre Augen können sich nicht an helles Licht anpassen und arbeiten immer im "Nachtmodus". Bei Dunkelheit werden nach dem Willen der Evolution nur Schemen wahrgenommen, um Gefahren schnell zu erkennen. Die Sehstärke ist bei diesem Gendefekt daher stark reduziert. "Sie entspricht nur rund zehn Prozent von der eines Normalsichtigen", erläutert Hagemann. Er gründete 2005 in Dorsten eine der ersten Achromatopsie-Selbsthilfegruppen. 80 Mitglieder sind hier organisiert, davon 31 Farbenblinde.

"Als Nils knapp drei Monate alt war, sind wir erstmals auf seine Erkrankung aufmerksam geworden", erinnert sich der Vater. Indiz war das auffällige Augenzittern, mit dem das Auge versuchte, die Sehschwäche auszugleichen. Nach dem Verdacht einer Augenärztin brachte ein Gentest an der Uni-Klinik kurze Zeit später Gewissheit.

Dass die Krankheit so früh entdeckt wurde, sieht der Vater als Glücksfall. "So konnten wir ihn auch mit Hilfe von Pädagogen für Sehbehinderungen von frühester Kindheit an fördern." Buntstifte werden etwa mit Symbolen markiert. Dank solcher Hilfen kann Nils heute in vielen Situationen die Sehbehinderung mit seinen anderen Sinnen und seinem ausgezeichneten Gedächtnis ausgleichen. "Bisweilen vergisst man die Krankheit sogar", schildert der Vater. "Nur bei Fragen, wie: Kann ich noch ein Stück rote Schokolade haben? merken wir wieder, was er nicht sehen kann."

Brillen oder Kontaktlinsen können die eingeschränkte Sehfähigkeit durch Achromatopsie um keinen Deut verbessern. Trotzdem sind Farbenblinde im Alltag auf Spezial-Brillen mit zumeist roten Gläsern angewiesen. Gewöhnliche Sonnenbrillen können die Blendung nicht abhalten. Auch Fernsehen, Kino und viele Computerspiele sind nichts für Achromaten, da sie dadurch mehr geblendet als unterhalten werden.

Genaue Zahlen suche man leider vergebens, da vielen Farbenblinden ihr Defekt gar nicht bewusst sei, sagt Hagemann. So ging es etwa Marlies Lankes aus Schermbeck in Nordrhein- Westfalen. Erst vor drei Jahren diagnostizierte eine Augenärztin bei der 61-Jährigen Achromatopsie. "Damals hatte ich einen Artikel über die Krankheit gelesen und mich in den Beschreibungen wiedererkannt", erinnert sie sich. "Die Jahre davor waren wie ein Martyrium. Niemand wusste, was ich habe - weder niedergelassene Ärzte noch Mediziner von der Uni-Klinik."

Da die Krankheit extrem selten vorkommt, sei sie einerseits vielen Farbenblinden gar nicht bewusst. Und andererseits sei sie deswegen für Ärzte schwierig zu diagnostizieren, sagte Barbara Schaperdoth-Gerlings, Oberärztin an der Essener Sehbehinderten-Ambulanz. (dpa)

www.achromatopsie.de

Achromatopsie

Das Gen für völlige Farbenblindheit haben Forscher der Augenklinik Tübingen 1998 erstmals identifiziert. Mit dem Defekt leben etwa 3000 Menschen in Deutschland. Am weitesten verbreitet ist die angeborene Achromatopsie. Menschen mit Blauzapfen-Monochromasie können noch Blau wahrnehmen. Auch nach einem Schlaganfall oder Schädel-Hirn-Trauma kann die totale Farbenblindheit auftreten.(dpa)

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