HINTERGRUND

Neues Wohnkonzept für Demenzkranke auf 230 Quadratmetern

Von Bernadette Scheurer und Sabine Schiner Veröffentlicht:

In Deutschland leben derzeit über 18,5 Millionen Menschen, die 60 Jahre und älter sind. Im Jahr 2030 werden es schätzungsweise 26,5 Millionen sein. "Immer mehr sind pflegebedürftig", sagt Professor Christel Bienstein, Leiterin des Instituts für Pflegewissenschaft der Universität Witten/Herdecke im Gespräch mit der "Ärzte Zeitung". Neue Konzepte der Betreuung sind gefragt, die die Heime entlasten.

An dem Institut wurde zusammen mit der Autonomia GmbH in Castrop-Rauxel nun eine neue Form des betreuten Wohnens entwickelt. Seit 1. Januar leben acht Demenzkranke in einer Wohngemeinschaft in Dortmund-Scharnhorst. Weitere Gemeinschaften sollen bis Juni in Essen und Castrop-Rauxel entstehen.

230 Quadratmeter für sechs bis acht Demenzkranke

"Ziel ist, die Demenzkranken in einem Umfeld zu betreuen, das ihren häuslichen Verhältnissen so ähnlich wie möglich ist", sagt Bienstein. "Dafür brauchen wir etwa 230 Quadratmeter für sechs bis acht Demenzkranke." Jeder Bewohner kann seine Möbel mitbringen. In Dortmund-Scharnhorst hat die Autonomia GmbH die dritte Etage eines Mehrfamilienhauses angemietet. Drei Wohnungen wurden dafür zusammengelegt und umgebaut, es gibt drei zusätzliche Bäder, ein großes Wohnzimmer und eine Küche.

Tagsüber sind in der Wohnung zwei Pfleger anwesend

"Jeder zahlt nur für sein Zimmer und anteilig etwas von den gemeinsamen Räumen zu ganz normalen Mietkonditionen", sagt Bienstein. Dazu kommen dann noch die Kosten für einen häuslichen Pflegedienst. Tagsüber sind zwei Pflegende anwesend, nachts ist einer da.

Statt an Beschäftigungstherapien teilzunehmen helfen die WG-Bewohner im Haushalt mit. Die Mitarbeiter werden speziell dafür geschult - unter anderem in Kinestetik, basaler Stimulation und in der biografischen Pflege. "Wenn eine Frau ständig umherirrt und sagt, sie müsse sich um ihre Kinder kümmern, muß man verstehen, daß sie in der Welt einer jungen Mutter lebt und ihr etwas geben, das sie umsorgen kann", sagt Margarete Decher von Autonomia. Demenzkranke lebten meist in der Vergangenheit. Decher: "Wenn man das weiß, versteht man ihr Verhalten."

Die Idee ist nicht neu. Derzeit gibt es in Deutschland vier verschiedene Typen von Wohngemeinschaftsformen, heißt es beim Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend in Berlin.

  • Beim integrierten stationären Typus wird ein Pflegeheim in teilautonome Pflegeeinheiten mit familienähnlichem Charakter aufgeteilt. Die Bewohner sollen sich weitgehend selbst versorgen.
  • Das Modell des ausgegliederten stationären Typus wird derzeit unter anderem in Wetter bei Marburg erprobt. Die sogenannte heimverbundene Hausgemeinschaft versucht, in einem normalen Wohnumfeld die pflegerische Versorgung der Demenzkranken unter dem organisatorischen Dach einer stationären Einrichtung zu realisieren.
  • Zum ambulanten Typus mit einer zentraler Bezugsperson gehören Wohngruppen, die, je nach Pflegebedürftigkeit, gemeinsam eine Art Haushälterin oder Sozialarbeiterin einstellen, die als kontinuierliche Ansprechperson zur Verfügung steht. Exemplarisch sind für diesen Typus unter anderem die Wohngemeinschaften in Braunschweig, die von dem Verein "ambet" betreut werden, oder die Villa Hitttorf in Münster.
  • Der ambulante Typ mit ausschließlicher Versorgung durch ambulante Pflegedienste orientiert sich am tatsächlichen Pflegebedarf der Mitbewohner und den entsprechenden Ansprüchen an die Kostenträger. Derzeit gibt es in Berlin über 80 solcher Wohngemeinschaften. Initiator ist der Verein "Freunde alter Menschen", der deutsche Zweig der "fédération internationale des petits frères des pauvres". Im Unterschied zu dem neuen Modell gibt es dort keine speziellen Betreuungsprogramme zur Pflege dementer Menschen.

Die Erfahrungen mit den Wohngemeinschaften sind durchweg positiv. Nach Untersuchungen des Wittener Instituts treten seltener Verhaltensauffälligkeiten auf als in Pflegeheimen. Erste Ergebnisse zeigen auch, daß die Bewohner eine höhere Lebenszufriedenheit haben.



Wohnung ohne Heimordnung

Die von der Universität Witten/Herdecke und der Autonomia GmbH in Castrop-Rauxel initiierten Wohngemeinschaften für Demenzkranke zeichnen sich durch mehr Freiheiten aus. Zum einen sollen die Bewohner selbstbestimmt Handeln können, die Betreuung ist deshalb auf den individuellen Bedarf ausgerichtet. Aber auch Angehörige haben jederzeit Zutritt, es gibt keine Heimordnung, die die Besuche regelt. Dies ist möglich, da die Wohngemeinschaften aufgrund der Trennung von Pflegeanbieter und Vermieter nach geltendem Recht keine Heime sind. Die Betroffenen, assistiert durch ihre gesetzlichen Vertreter, schließen sich selbst zu einer Wohngemeinschaft zusammen und bleiben in allen Fragen letztendlich Herr im Hause.

Weitere Informationen unter www.deutsche-alzheimer.de und www.autonomia-gmbh.de

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