INTERVIEW

"Mit abstrakten Daten kommt man nicht weiter"

Was nützen Antidementiva den Patienten? Diese Frage will das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) klären - und zwar anhand von streng wissenschaftlichen Kriterien. Doch nicht alles, was Patienten nützt, läßt sich mit solchen Kriterien erfassen, sagt Professor Lutz Frölich. Was zählt, sind klinische Erfahrungen. Mit dem Gerontopsychiater sprach Thomas Müller von der "Ärzte Zeitung".

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Ärzte Zeitung: In seinem Vorbericht gesteht das IQWiG den Cholinesterase-Hemmern zu, daß sie bei Alzheimer-Patienten den Abbau der kognitiven Fähigkeiten leicht verzögern können. Ist damit die Gefahr gebannt, daß diese Arzneien aus dem GKV-Leistungskatalog fallen?

Professor Lutz Frölich: Schön wär’s! Ich hoffe, daß diese Gefahr gebannt ist, weil es in dem Vorbericht klare Aussagen zu einem Nutzen der Arzneien für Alzheimer-Kranke bei Kognition und Aktivitäten des täglichen Lebens gibt. Was es aber nicht gibt, ist eine Bewertung dieses Nutzens, also eine Abwägung mit dem möglichen Schaden durch Nebenwirkungen. Das IQWiG liefert damit einen unvollständigen Bericht und spricht letztlich keine Empfehlung aus. Man muß aber auch noch die Bewertung zu Memantine und Ginkgo biloba abwarten sowie den zusammenfassenden Bericht, der wahrscheinlich auch den Nutzen der Substanzen gegeneinander abwägen wird.

Ärzte Zeitung: Es entsteht der Eindruck, daß sich das IQWiG bei den Cholinesterase-Hemmern der Bewertung entziehen will.

Frölich: Genau. Sie entziehen sich - zumindest zum jetzigen Zeitpunkt - einer eigenen Bewertung. Das ist doch interessant! Was zu Cholinesterase-Hemmern in dem Bericht steht, ist genau das, was man so auch in verschiedenen Metaanalysen lesen kann. Da hätte man auch die Cochrane-Daten übernehmen können.

Ärzte Zeitung: Ist das IQWiG vielleicht nach dem Eiertanz seines britischen Pendants vorsichtiger geworden? Das National Institute for Health and Clinical Excellence (NICE) hatte 2001 eine positive Bewertung zum Nutzen von Cholinesterase-Hemmern vorgelegt, die Bewertung 2005 wieder revidiert, um dann vor einigen Monaten zurückzurudern. Nun empfehlen die Briten die Cholinesterase-Hemmer wieder - und zwar für Patienten in einem mittelschweren Krankheitsstadium.

Frölich: Möglicherweise ist das einer der Gründe. Man hat wohl erkannt, daß man alleine mit abstrakten wissenschaftlich Daten in der klinischen Realität nicht weit kommt. Der britische Gesundheitsminister hat einmal zu NICE gesagt: You need to see the bigger picture - Ihr müßt das gesamte Bild sehen!

Ärzte Zeitung: Konkret bedeutet das?

Frölich: Indem das IQWiG für seine Bewertung nur randomisierte, Placebo-kontrollierte Studien berücksichtigt, verwendet es einerseits zwar eine wissenschaftlich korrekte Meßlatte, andererseits ist es aber eine lebensfremde Meßlatte, und damit die falsche, um den Nutzen der Therapie hinreichend zu bewerten. So lassen sich mit den strengen IQWiG-Kriterien zwar gut Effekte bei der Kognition oder den Aktivitäten des täglichen Lebens erfassen. Sie sind aber kaum tauglich, um damit die Lebensqualität oder eine Verzögerung der Heimeinweisung zu bewerten. Es gibt mit Cholinesterase-Hemmern nur zwei Studien, die über ein Jahr lang Placebo-kontrolliert geführt wurden - alle anderen waren nur ein halbes Jahr Placebo-kontrolliert, danach gab es längere Anschlußbeobachtungen, in denen alle Patienten das Prüfmedikament erhielten. Solche Anschlußbeobachtungen haben eine Verzögerung der Aufnahme in ein Pflegeheim ergeben, wurden aber nicht berücksichtigt, weil sie nicht den Placebo-kontrollierten Kriterien genügen und auch nicht genügen können.

Ärzte Zeitung: Weshalb nicht? Man könnte doch eine Placebo-kontrollierte Studie über mehrere Jahre machen, um den Nutzen bei der Pflegeheim-Aufnahme auch streng wissenschaftlich zu prüfen.

   
"Demenz-Patienten länger als ein halbes Jahr mit Placebo zu behandeln, ist ethisch nicht zu rechtfertigen."
   

Frölich: Einen Patienten mit Alzheimer-Demenz länger als ein halbes Jahr mit Placebo zu behandeln ist ethisch nicht mehr zu rechtfertigen. Aus ärztlicher Sicht ist es nicht zu verantworten, eine langjährige Studie mit einer Placebogruppe zu führen. Genau das wäre aber die Lösung des IQWiG-Problems.

Ärzte Zeitung: Ein Problem ist wohl auch, was unter dem Nutzen eines Antidementivums zu verstehen ist.

Frölich: Der Nutzen ist zunächst eine klinische Bewertung der Wirksamkeit, wobei unter Wirksamkeit in Zulassungsstudien eben nur kognitive Fähigkeiten, Aktivitäten des täglichen Lebens und das Globalurteil des Arztes verstanden werden. Da liegt ein Teil des Problems. Denn der Nutzen ist nur im klinischen Kontext zu verstehen. Insofern hat jeder praktisch tätige Arzt eine höhere Kompetenz bei der Beurteilung des Nutzens als ein noch so guter Statistiker.

Ärzte Zeitung: Was bedeutet das in der Praxis genau?

Frölich: Für Demenz-Patienten steht der Erhalt der kognitiven Fähigkeiten an zentraler Stelle. Aber auch wenn jemand besser essen kann als vorher oder länger selbständig auf die Toilette gehen kann, dann ist dies ein klar erkennbarer und gut meßbarer Nutzen. Andere Bereiche wie psychische Symptome, die Notwendigkeit einer Heimeinweisung, der Betreuungsaufwand oder die Lebensqualität sind vielschichtiger - der Nutzen ist hier schwerer zu beurteilen.

Ärzte Zeitung: Woran liegt das?

Frölich: Ein Demenz-Patient kann irgendwann keine Auskunft mehr zu seiner Lebensqualität geben, das müssen dann der Arzt und die Angehörigen machen. Die Lebensqualität kann also nur von außen bestimmt werden. Derzeit gibt es noch kein klares Instrument, mit dem sich die Lebensqualität bei Demenz-Kranken gut erfassen läßt. Ähnliches gilt für den Betreuungs- und Pflegeaufwand.

Auch die Heimeinweisung ist von vielen Punkten abhängig: Ob ein Platz verfügbar ist, ob eine pflegende Familie da ist. Zieht etwa die pflegende Tochter von Hamburg nach Rostock um, dann ist die Heimeinweisung fällig, auch wenn sich der Zustand des Patienten nicht verändert hat. Kriterien wie Aufnahme ins Pflegeheim und Betreuungsaufwand sind zwar gut zu messen, aber inhaltlich schwer zu bewerten.

Ärzte Zeitung: Falls Antidementiva aufgrund solcher Probleme bei der Nutzenbewertung von den gesetzlichen Kassen nicht mehr bezahlt werden, welche Folgen hätte das?

Frölich: Die Alzheimer-Krankheit würde wieder aus der Wahrnehmung der Ärzte verschwinden. Man würde sagen: Warum soll ich eine aufwendige Diagnostik machen oder lange Gespräche mit den Patienten führen, wenn ich sowieso nichts machen kann? Man würde auch nicht-medikamentöse Therapien sehr stark vernachlässigen.

Ärzte Zeitung: Dann bliebe also nur, zu warten, bis man bessere Medikamente entwickelt hat.

   
"Jeder Arzt hat eine höhere Kompetenz bei der Beurteilung des Nutzens als ein noch so guter Statistiker."
   

Frölich: Das hieße, man müßte wieder von Null anfangen, weil man bis dahin die Fortschritte bei der Therapie, Diagnostik und Versorgung der letzten zehn Jahre über Bord geschüttet hat. Wir Ärzte wissen doch, daß die bisherigen Medikamente einen begrenzten Nutzen haben. Doch solange es keine Alternativen gibt, ist dieser Nutzen gegenüber der Nicht-Behandlung hoch einzuschätzen.

Ärzte Zeitung: Bald soll es eine neue Generation von Antidementiva geben. Werden diese besser wirken?

Frölich: Die Hoffnung besteht. Diese Arzneien könnten die Progression der Krankheit stark bremsen oder gar stoppen, denn es sind vorwiegend Substanzen, die die Bildung und Ablagerung von Amyloid reduzieren.

Ärzte Zeitung: Wenn man von einem subklinischen Verlauf von 15 bis 30 Jahre bei M. Alzheimer ausgeht, ist es dann bei ersten Symptomen nicht zu spät, den Verlauf zu stoppen?

Frölich: Man sollte die regenerativen Fähigkeiten des Gehirns nicht unterschätzen. Viele Prozesse im Gehirn kämpfen verzweifelt gegen die Degeneration an. Wenn man diesen Prozeß zum Stoppen bringt, auch wenn schon Symptome da sind, besteht immer noch eine große Chance für eine gewisse Regeneration. Und alte Menschen können sehr gut noch mit Einbußen zurechtzukommen und das als Lebensqualität erleben.

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ZUR PERSON

Professor Lutz Frölich, geboren 1956 in Neumünster, ist Leiter der Abteilung für Gerontopsychiatrie, des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit Mannheim. Er ist zudem Professor für Gerontopsychiatrie an der Uni Heidelberg und Mitglied des Kompetenznetzes Demenzen. Seine Forschungsschwerpunkte sind etwa funktionell-bildgebende Verfahren bei psychiatrischen Alterskrankheiten oder Leitlinien für Diagnostik und Therapie bei Demenzen.

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