Leitlinie versus IQWiG: Wer legt die Demenztherapie fest?

Mit seinen Berichten brüskiert das IQWiG die gesamte in Deutschland vorhandene Demenz-Expertise - für manche Kasse und KV sind die Berichte dennoch Maß aller Dinge.

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Demenzpatient - um die geeignete Therapie wird gestritten. © dpa

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Von Thomas Müller

So mancher Arzt dürfte sich die Augen gerieben haben, als ihm ein Brief einer Kasse in die Praxis flatterte, mit der Bitte, die Verordnung des Antidementivums Memantine zu überprüfen, schließlich habe das IQWiG doch herausgefunden, dass es Alzheimer-Patienten nichts nütze. Ähnlich verwunderlich ist eine Mitteilung der KV Niedersachsen, die von sich behauptet, "die wissenschaftlichen Erkenntnisse" zum Nutzen von Antidementiva zusammenzufassen, dabei ausschließlich auf den IQWiG-Bericht vom September 2009 verweist und so unweigerlich zum Fazit kommt: "Memantine hat bei Alzheimer keinen Nutzenbeleg erbracht."

Unverkennbar wird mit Verweis auf das IQWiG versucht, Druck auf Ärzte auszuüben, ein zugelassenes und erstattungsfähiges Arzneimittel nicht mehr zu verordnen, obwohl eine bindende Entscheidung des Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA) und des Bundesgesundheitsministeriums (BMG) dazu noch aussteht. Zwar folgen der GBA und das Ministerium häufig den IQWiG-Vorschlägen, man darf aber sehr gespannt sein, ob sie es auch dieses Mal tun: Denn mit seiner seiner Beurteilung zu Memantine steht das IQWiG ziemlich alleine auf weiter Flur.

So kam ein multiprofessionelles Expertengremium im vergangenen November zu einer komplett anderen Schlussfolgerung: In der neuen, erstmals fachübergreifend erstellten S3-Leitlinie zu Demenzen wird eine Therapie mit Memantine bei moderatem bis schwerem Alzheimer ausdrücklich empfohlen. "Memantine ist wirksam auf die Kognition, Alltagsfunktion und den klinischen Gesamteindruck", heißt es in der Leitlinie, und für diese Aussage wird die höchste Evidenzebene 1a vergeben.

Diese Aussage beruht auf einem Konsens von nicht weniger als 32 Gesellschaften und Berufsverbänden, die an der Leitlinie mitgewirkt haben. Sollten der GBA und das BMG die neuen Leitlinien ebenfalls ignorieren und tatsächlich den IQWiG-Empfehlungen folgen, würden sie sich gegen die gesamte in Deutschland vorhandene Demenz-Expertise stellen.

Experten gehen mit IQWiG scharf ins Gericht

Bei dem Konflikt geht es daher wohl nicht nur um die Wirksamkeit eines bestimmten Antidementivums, sondern auch um die Frage, wer künftig Therapiestandards festlegt: die Ärzte und Wissenschaftler der Fachgesellschaften oder die Funktionäre und Bürokraten von IQWiG, GBA und BMG. Die neue S3-Leitlinie lässt sich daher auch als Versuch der Experten lesen, die Deutungshoheit über die Demenztherapie zurück zu erlangen - entsprechend scharf gehen sie sogar im Leitlinientext mit dem IQWiG-Bericht ins Gericht.

Zwar akzeptiert das IQWiG eine signifikante Wirksamkeit von Memantine auf Kognition und Alltagsfunktion, wie sie in zahlreichen Studien belegt wurde, hält die Effekte aber für zu gering, um einen klinischen Nutzen zu erkennen. Und hier setzt auch die Kritik der Fachgesellschaften an.

Zum einen lege das Institut letztlich willkürlich fest, was aus seiner Sicht ein klinischer Nutzen ist, zum anderen habe das IQWiG bei Memantine plötzlich eine andere Methodik zur Nutzenbewertung herangezogen als bei den zuvor geprüften Cholinesterase-Hemmern. Wurde bei diesen von einem Nutzen ausgegangen, wenn ein bestimmter Wert auf den in Studien verwendeten Skalen erreicht wurde - etwa eine Veränderung von zwei Punkten auf der ADAS-cog-Skala, so behauptet das IQWiG nun, dass in den Memantine-Studien keine Angaben zur klinischen Relevanz von Effekten auf diesen Skalen gemacht werden können.

Stattdessen greift es zu einem rein mathematischen Maß bei der Nutzenbewertung: dem Cohens-d-Wert. Dieser gibt unabhängig von Studienzahl und -umfang eine Effektgröße an. Nach Aussagen des Statistikers Jacob Cohen, der dieses Maß etabliert hat, deutet ein Wert ab 0,2 auf einen kleinen Effekt, ab 0,5 auf einen mittleren und ab 0,8 auf einen großen Effekt. Dies, so Cohen selbst, sei aber seine persönliche Einschätzung.

"Letztlich gibt es keine international anerkannten Kriterien, ab welchem Cohens-d-Wert ein Nutzen besteht", so Professor Jörg B. Schulz, Leiter der Neurologischen Uniklinik in Aachen und Mitautor der S3Demenzleitlinie. Das IQWiG legte aber - letztlich willkürlich - 0,2 als Grenzwert für den Nutzen fest.

Doch nicht nur das: Es verhedderte sich anschließend auch beim Gebrauch des Grenzwerts in den eigenen statistischen Abgründen. So wird der selbst gewählte Grenzwert von 0,2 in Metaanalysen mit Memantine zwar deutlich überschritten. Das IQWiG fordert jedoch, dass der Grenzwert sicher überschritten wird, und sicher heißt nach der Auffassung des Instituts: Die untere Grenze des 95-Prozent-Konfidenzintervalls muss über 0,2 liegen, was bei Memantine nicht der Fall ist.

Statistiker würden sich bei diesem Vorgehen jedoch die Haare raufen: Da der Cohens-d-Wert von der Fallzahl unabhängig ist, könne man ihn nicht mit einem Konfidenzintervall verknüpfen, das von der Fallzahl abhängt, also von Studienzahl und -größe. "Das ist eigentlich Unsinn", so Schulz zur "Ärzte Zeitung".

Cholinesterase-Hemmern droht eine erneute Prüfung

Die Hersteller von Cholinesterase-Hemmern hatten folglich Glück, dass deren Präparate nicht nach solch seltsamen Methoden beurteilt wurden. Allerdings plane das IQWiG eine "Aktualisierungsrecherche" zu eben diesen Medikamenten mit eben diesen Methoden. Und damit, so Schulz, würde mindestens ein Cholinesterase-Hemmer den IQWiG-eigenen Cohens-d-Test nicht bestehen.

Aber auch davon scheint zumindest die KV Niedersachsen nichts zu ahnen, wenn sie mit Verweis auf das IQWiG schreibt: Cholinesterase-Hemmer haben einen Nutzen auf die Kognition, Memantine nicht.

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