Pflegeheime

Eine Frage der Umsetzung, nicht des Wissens

Über 40 Prozent der Pflegeheimbewohner mit Demenz haben in ihrer Dauermedikation mindestens ein Neuroleptikum. Zu viel, kritisiert die Klinische Pharmakologin Professor Petra Thürmann. Im Interview erläutert sie, wie Pflegepersonal und Ärzte gemeinsam an einer Gegenstrategie arbeiten könnten. Dabei sei vor allem Empathie gefragt.

Von Taina Ebert-Rall Veröffentlicht:
Prof. Petra Thürmann kritisiert die Dauermedikation von Heimbewohnern mit Neuroleptika.

Prof. Petra Thürmann kritisiert die Dauermedikation von Heimbewohnern mit Neuroleptika.

© Michael Mutzberg

Ärzte Zeitung: Der AOK-Pflege-Report berichtet, dass Pflegeheimbewohner in Deutschland zu viele Psychopharmaka erhalten, vor allem Neuroleptika . Dagegen werden Depressionen bei Demenzkranken sogar weniger mit Medikamenten behandelt als in anderen europäischen Ländern. Ist es überhaupt möglich, Depression bei Demenzkranken sicher zu messen und zu diagnostizieren?

Professor Petra Thürmann: Durchaus. Wir können ja auch erkennen, wenn Demenzkranke Schmerzen haben. Es gibt inzwischen validierte Möglichkeiten, anhand einer ganzen Reihe von Merkmalen auch bei diesen Patienten eine Depression zu diagnostizieren. Dass hier ganz genau hingeschaut wird, ist wichtig. Außerdem sind die Betroffenen je nach Schweregrad der Depression durchaus in der Lage, sich zu verständigen, zum Beispiel suizidale Absichten zu äußern. Der Dreh- und Angelpunkt bei der Diagnose ist die genaue Beobachtung. Also, dass idealerweise eine Pflegeperson, die den Patienten regelmäßig sieht, auf bestimmte Anzeichen achtet. Verändert sich das Verhalten der Person? Isst der Patient regelmäßig? Solche Beobachtungen spielen eine Rolle.

Prof. Petra Thürmann

ist Direktorin des Philipp-Klee-Instituts für klinische Pharmakologie am HELIOS Universitätsklinikum Wuppertal.

Seit 1998 hat sie den Lehrstuhl für Klinische Pharmakologie an der Universität Witten/Herdecke inne.

Seit 2011 ist sie Mitglied des Sachverständigenrats zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen.

Die Fachärztin für Klinische Pharmakologie ist außerdem Mitglied der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft.

Und wie sieht es bei der medikamentösen Behandlung von Depressionen bei Demenzkranken aus?

Im Pflege-Report sehen wir, dass jeder fünfte Pflegebedürftige ein Medikament gegen Depressionen bekommt. Außerdem haben wir in einer Untersuchung festgestellt, dass gut 30 Prozent von 841 Altenheim-Bewohnern ein Antidepressivum erhielten, wobei es hier kaum Unterschiede zwischen Menschen mit oder ohne Demenz gab. Der europäische Vergleich gibt Hinweise darauf, dass es bei uns möglicherweise eine Unterversorgung von demenzkranken Patienten mit Antidepressiva gibt – sowohl in der häuslichen Versorgung als auch im Pflegeheim.

Was ist Ihr wichtigster Kritikpunkt, wenn es um die Medikation demenzkranker Pflegeheimbewohner geht?

Über 40 Prozent der Heimbewohner mit Demenz haben in ihrer Dauermedikation mindestens ein Neuroleptikum. Hinzu kommen weitere beruhigende Medikamente, die zum Beispiel wegen ausgeprägter Unruhe verabreicht werden. Das entspricht allerdings nicht den Leitlinien. Neuroleptika werden zur Behandlung von Psychosen entwickelt und geprüft. Nur ganz wenige Wirkstoffe sind für die Behandlung von Wahnvorstellungen und aggressivem Verhalten bei Demenz zugelassen. Und dann auch nur für eine kurze Therapiezeit von etwa sechs Wochen. Oft werden diese Arzneistoffe jedoch als Dauermedikation eingesetzt. Und das kritisiere ich. Denn bei bis zu zwei Dritteln der Heimbewohner könnten die Medikamente zumindest in der Dosis reduziert, oftmals auch für einige Wochen oder sogar Monate abgesetzt werden.

Mindestens genauso wichtig wie eine gute Medikation ist ein wertschätzendes Verhalten gegenüber den Patienten. Patienten mit Demenz sind auf Empathie angewiesen. Wir wissen inzwischen, dass Bewegung, Tanz oder auch Musik, den Patienten gut tut.

Welche Unterschiede gibt es hier zwischen Deutschland und den europäischen Nachbarländern?

Im Rahmen eines europäischen Projekts wurde ermittelt, dass von insgesamt 791 dementen Bewohnern mit mittelgradiger und schwerer Demenz in Altenheimen 54 Prozent der spanischen und 47 Prozent der deutschen Heimbewohner mit Demenz Neuroleptika erhalten, während es in Schweden nur zwölf Prozent und in Finnland 30 Prozent sind. Auch fallen unterschiedliche Konzepte bei der Gabe von sogenannten typischen Neuroleptika wie beispielsweise Haloperidol oder Melperon und atypischen Neuroleptika auf. In Deutschland überwiegen die atypischen Neuroleptika, während in Frankreich nur zehn Prozent der dementen Heimbewohner ein atypisches Neuroleptikum verordnet wird.

Interessanterweise sinkt in der europäischen Analyse die Wahrscheinlichkeit für eine Neuroleptikatherapie in den Einrichtungen, die einen Wohnbereich speziell für Menschen mit Demenz vorhalten.

Gibt es weitere Unterschiede?

In etlichen anderen europäischen Ländern haben die Pflegekräfte ein ganz anderes berufliches Ansehen als bei uns. Das macht viel aus. Ärzte, die ihre Patienten im Heim besuchen und behandeln, brauchen genaue Informationen. Dafür ist es wichtig, dass die Pflegekräfte mit den Ärzten auf Augenhöhe kommunizieren.

Im Rahmen des AMTS-AMPEL-Projekts haben wir ein Programm entwickelt, das unter anderem auf eine bessere Kommunikation zwischen den beteiligten Berufsgruppen abzielt, also zwischen Hausärzten, Apothekern und Pflegepersonal. In Schulungen werden Pflegekräfte in die Lage versetzt, einerseits ihre Kompetenzen im Umgang mit herausforderndem Verhalten von Patienten anzuwenden und andererseits zielgerichtet mit Ärzten zu kommunizieren und präzise Informationen zum Zustand des Patienten zu geben.

Worauf sollten Ärzte bei der medikamentösen Versorgung von Demenzpatienten besonders achten?

Dass auf Medikamente nicht verzichtet werden kann, ist klar. Aber wenn der Arzt die richtigen Informationen hat, kann gezielter verordnet werden. Es kann also nicht schaden, auch einmal innezuhalten und zu überlegen, ob vor der Verordnung von Psychopharmaka alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft worden sind. Und dann sollte natürlich einige Wochen nach der Verordnung noch einmal nachgehakt werden. Hat die Verordnung zu einer Verbesserung geführt oder sind Nebenwirkungen aufgetreten? Und dann kann der Arzt auch ganz gezielt darum bitten, vom Pflegepersonal über Auffälligkeiten informiert zu werden.

Denn eine gute Versorgung ist keine Frage des Wissens, es ist eine Frage der Umsetzung.

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