Geriatrie

Antidementiva und Lipidsenker bis zum letzten Atemzug

Obwohl ihr Tod schon absehbar ist, werden Pflegeheimpatienten mit fortgeschrittener Demenz oft noch mit Medikamenten wie Antidementiva oder Lipidsenkern behandelt. Viele Betroffene bekommen die Präparate sogar noch in der letzten Woche vor dem Tod, so eine Studie.

Von Dr. Christine Starostzik Veröffentlicht:
Palliative Therapie: Der Nutzen der Medikamente ist regelmäßig kritisch zu überdenken. Dazu sind auch die Fachkollegen hinzuzuziehen.

Palliative Therapie: Der Nutzen der Medikamente ist regelmäßig kritisch zu überdenken. Dazu sind auch die Fachkollegen hinzuzuziehen.

© CHW / fotolia.com

TORONTO. Jeder vierte Patient mit fortgeschrittener Demenz stirbt binnen sechs Monaten. Damit haben die Betroffenen noch eine ähnlich lange Lebenserwartung wie Frauen mit metastasiertem Brustkrebs oder Patienten mit Herzinsuffizienz im Stadium IV. In der terminalen Lebensphase sollten Ärzte aber vor allem die Lebensqualität verbessern helfen; aggressive Eingriffe und belastende Behandlungen sind einzuschränken (J Am Geritatr Soc 2008; 56; 1306). Doch dies wird offenbar immer wieder missachtet.

Medikamente mit fraglichem Nutzen

Wie steht es bei alten Menschen in Pflegeheimen um die Verschreibung von Medikamenten mit fraglichem Nutzen (Medications of questionable benefit, MQBs)? Das haben Jeremy Matlow von der University of Toronto und Kollegen in einer populationsbasierten Querschnittstudie untersucht (J Am Geriatr Soc 2017, online 29. März). Sie haben dazu Daten von 9298 über 66-Jährigen mit fortgeschrittener Demenz aus Pflegeheimen ausgewertet. Die Patienten waren zwischen Juni 2010 und März 2013 gestorben. Allen war in ihrem letzten Lebensjahr mindestens ein Medikament mit fraglichem Nutzen verschrieben worden. Hierzu zählen in dieser speziellen Lebensphase Lipidsenker wie Statine oder Fibrate, Thrombozytenaggregationshemmer außer Acetylsalizylsäure, Antidementiva, Sexualhormone, Hormonantagonisten, Leukotrieninhibitoren, zytotoxische Chemotherapeutika sowie Immunmodulatoren.

Lebenszeit wird nicht verkürzt

Oft würden diese Medikamente kritiklos einfach immer weiter verabreicht – entweder weil man die verbleibende Lebenszeit überschätze und ein Fortschreiten der Demenz befürchte oder weil einfach ein Fachkollege fehle, um ein Medikament sicher abzusetzen, so Matlow und Kollegen. Dabei habe sich beispielsweise in einer Studie gezeigt, dass sich nach Abbruch einer Statintherapie bei Patienten mit kognitiven Verschlechterungen die Lebensqualität verbesserte und weniger unerwünschte Nebeneffekte auftraten, ohne dass die verbleibende Lebenszeit davon beeinträchtigt wurde.

Matlow und Kollegen stellten fest, dass 86 Prozent der alten Patienten in den letzten 120 Lebenstagen ein Medikament mit fraglichem Nutzen (MQB) eingenommen hatten, 45 Prozent sogar in der letzten Woche vor ihrem Tod. Zu den am häufigsten verschriebenen Wirkstoffen in den letzten 120 Tagen zählten Antidementiva (64 Prozent) und Lipidsenker (48 Prozent), gefolgt von Thrombozytenaggregationshemmern (18 Prozent) und Sexualhormonen (2 Prozent).

Kontakt mit Fachärzten wichtig

Selbst in der letzten Lebenswoche erhielten 32 Prozent der Patienten noch Antidementiva, 23 Prozent Lipidsenker, 10 Prozent Plättchenhemmer und 1 Prozent Sexualhormone. Dabei wurden in dieser Zeit Personen mit besserem Allgemeinzustand oder einem Cognitive Performance Score (CPS) von 5 (entspricht 5,1 im MMSE) häufiger behandelt als solche, denen es körperlich schon schlechter ging oder deren kognitive Leistungsfähigkeit stärker eingeschränkt war (CPS-Score 6; entspricht 0,4 im MMSE).

Die Studienautoren heben hervor, dass fast jeder dritte Pflegebedürftige in seinem letzten Lebensjahr keinem Facharzt vorgestellt worden war. Dies aber wäre wichtig, so die Autoren, um Medikamente mit fraglichem Nutzen am Ende des Lebens sicher abzusetzen und zu vermeiden.

Da manche Wirkstoffe in dieser speziellen Patientengruppe mehr Schaden anrichteten als Nutzen brächten, so Matlow und Kollegen, sei es wichtig, dass Ärzte, die diese Menschen am Ende ihres Lebens betreuen, immer wieder den Nutzen der eingesetzten Medikamente kritisch überdenken. Hilfreich sei es dabei, die Kollegen aus der Neurologie und der Psychiatrie hinzuzuziehen.

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